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Band 4 - m-presse

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182 Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />

Schleiermacher berufen darf, dem ja Gott nur ein Phantasiebild war, der<br />

aber ein Bekenntnis zum Atheismus mit allzuviel Dialektik abgelehnt<br />

hätte. Strauß ist in seinem letzten Buche so sehr Atheist, daß er sich dem<br />

entsetzlichen Gedanken nähert, die Religion, die man immer feierlich für<br />

einen Vorzug des Menschen vor dem Tiere ausgegeben hatte, für eine<br />

Schwachheit zu erklären, die der Menschheit vorzüglich während der Zeiten<br />

ihrer Kindheit anklebte, der sie aber mit dem Eintritt der Reife entwachsen<br />

soll. Hier endlich biegt der Bekenner aus, immer ohne unehrlich zu werden.<br />

Wie er den alten Ausdruck "Gott" weiter dulden will (ähnlich der Redensart<br />

von einem Aufgang der Sonne), wenn man sich nur immer bewußt<br />

bliebe, daß der Mensch sich selbst in diesen Ausdruck hineingeträumt hat, —<br />

so und noch mehr will er den Begriff Religion gelten lassen (natürlich ohne<br />

jede Spur von irgendeinem Gottesdienst), wenn man unter Religion nichts<br />

weiter verstehen will als das Gefühl der Abhängigkeit von dem schönen<br />

und wohlgeordneten Universum. Über die Begründung dieser sehr<br />

optimistischen Weltansicht, die sich mit schlechter Sophistik gegen Schopenhauer<br />

wendet, hat sich Nietzsche doch mit einigem Rechte lustig gemacht.<br />

Die folgenden Abschnitte des Buches und die Zugaben (über die großen<br />

deutschen Dichter und Musiker) sind hübsch zu lesen, obgleich sie — wie ihr<br />

Verfasser — bereits 1872 etwas bejahrt waren. Strauß redet in seinen<br />

Antworten auf die dritte und vierte Frage mit vergänglicher Klugheit über<br />

die Entstehung der Welt (Kant und Darwin) und über politische Fragen;<br />

er war auf allen diesen Gebieten kein Selbstdenker wie auf dem Felde der<br />

Religionskritik. Doch auch die schwächsten Teile seines Buches verdienten<br />

nicht die verächtliche Behandlung, die ihnen, zum zweiten Male, nach fünfunddreißig<br />

Jahren, von seiten der Wissenschaftler widerfuhr. Und auch<br />

von seiten der "liberalen" Journalisten, die es doch nur den übelwollenden<br />

Universitätsprofessoren nachschrieben, daß Strauß auch nur so ein<br />

„Feuilletonist" wäre. Das furchtbare Unrecht gegen Strauß, der einer<br />

unserer besten Männer war, muß meines Erachtens noch gesühnt werden.<br />

Ich will mich nur gegen zwei Angreifer wenden, einen namenlosen und<br />

einen weltberühmt gewordenen.<br />

Gegen den freilich ganz unklaren Pantheismus der linken Partei der<br />

Hegelianer, insbesondere gegen "Die Religion der Zukunft" von Friedrich<br />

Feuerbach (1843) und gegen „Die christliche Glaubenslehre" von David<br />

Strauß (1841), erschien (1847) eine anonyme Flugschrift "Der philosophische<br />

<strong>Band</strong>wurm, eine Appellation an den Verein der Philosophen in<br />

Gotha". Der Verfasser kämpft im Grunde mit abgestandenen Begriffen<br />

und Beweisen einer scholastischen Theologie; aber er ist nicht ohne Scharfsinn.<br />

Ein sich selbst aufrichtig kritisierender Atheist sei ihm lieber als ein sich<br />

Strauß und Nietzsche 183<br />

infallibel wähnender Pantheist. Da Hegel die Erde für den ausschließlichen<br />

Wohnplatz bewußter Wesen und für den Mittelpunkt der Gestirne halte,<br />

sich selbst aber für den Mittelpunkt alles Wissens der bewußten Wesen,<br />

so fehle nur noch der Glaube, daß das Weltall um seinetwillen von Ewigkeit<br />

her da sei. Noch witziger ist ein Vergleich, um dessen willen der unappetitliche<br />

Titel der Flugschrift dasteht. Von den beiden Personen des Dialogs ist A.<br />

ein gläubiger Theologe, B. ein Zweifler; B. ist melancholisch, weil er<br />

zweifelt und weil er einen <strong>Band</strong>wurm hat. A. meint nun mit einem drastischen<br />

argumentum ad hominem: der Mensch wisse vom Weltall und dessen<br />

aufbauender Vernunft so wenig wie ein vernünftelnder <strong>Band</strong>wurm vom<br />

Herzschlage und von der Gehirntätigkeit seines Wirtes; eher hätte ein auf<br />

der Oberfläche herumkriechendes Insekt einige sinnliche Erfahrung vom<br />

Ganzen. Es verdient keiner Erwähnung, daß der Verfasser diese<br />

Art von Pantheismus als Atheismus behandelt, gegen seine Popularisierung<br />

die Obrigkeit zu Hilfe ruft und schließlich B. auffordert, das "die<br />

Menschheit auf eine feine Art verdummende Buch (von Strauß) ins Feuer<br />

zu werfen".<br />

Noch gröber und boshafter als dieser Angriff aus Straußens Frühzeit<br />

war eine Schrift, die sich 1873 gegen Straußens Testament richtete; es<br />

war die erste von Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen: "David Strauß,<br />

der Bekenner und der Schriftsteller." Man sieht schon aus den Jahreszahlen,<br />

wie der Lebenskampf des Mannes, der durch sein "Leben Jesu"<br />

berühmt geworden war, herüber reicht von der Zeit Hegels bis zu der<br />

Studentenzeit von uns, die wir heute alte Leute sind. Unser Bild von<br />

Nietzsche erhält keinen häßlichen Zug dadurch, daß wir nicht verkennen, der<br />

vornehme Nietzsche habe da ein Pamphlet geschrieben, übertrieben und oft<br />

ungerecht, habe sich bei der (übrigens sehr lesenswerten) Sammlung von<br />

Straußschen Stilblüten sogar kleine Verdrehungen erlaubt; Strauß hatte<br />

in seinem Buche just Beethovens gewaltigste Werke spießbürgerlich beurteilt,<br />

verachtete Richard Wagner, bekämpfte den Pessimismus Schopenhauers:<br />

dafür nahm der junge Enthusiast, der nicht höher schwören gelernt<br />

hatte als auf Beethoven, Wagner und Schopenhauer, seine Rache, indem er<br />

gegen einen der freiesten und besten Köpfe der Zeit eine Bezeichnung<br />

prägte, die ein geflügeltes Wort geworden ist: Bildungsphilister. Es steht<br />

in Nietzsches Gelegenheitsschrift viel Wahres über Straußens Vorsichtigkeit .<br />

und allzu absichtliche Stilzierlichkeit; auch zucken hie und da schon Zarathustras<br />

Ideen auf, wenn auch die Sprache, ganz von Schopenhauer abhängig,<br />

noch nicht die glühende Kraft des reifen Nietzsche besitzt. Doch<br />

unbegreiflich ist es, daß der spätere Antichrist dem religiösen Befreier<br />

Strauß gar nicht gerecht werden kann; nur an einer Stelle verrät es sich,

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