Band 4 - m-presse
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178 Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />
daß der junge Draufgänger da heuchelte. Er war nur so sehr Theologe,<br />
noch dazu verhegelter Theologe, daß er das luftige Gebäude der Religion,<br />
dessen Fundamente er bis auf den letzten Stein entfernt hatte, noch zu<br />
retten hoffte; er wollte auf dem Aste sitzen bleiben, den er in schwerer Arbeit<br />
abgesägt hatte.<br />
Er war (geb. 1808, gest. 1874) Theologe, nicht eben von Beruf, aber<br />
doch von Gewerbe; schüchtern als Privatmensch, unterdrückte er in den<br />
ihm auferlegten Predigten jede Spekulation und Kritik, trug er noch als<br />
"Repetent" in Tübingen eine ziemlich dogmatische Hegelei vor; für den<br />
Studenten war Hegel (der just starb, als Strauß ihn hören wollte) der<br />
Abgott gewesen, Schleiermacher nur ein persönlich unsympathischer Anreger.<br />
Doch der fünfundzwanzigjährige Repetent schon unterbrach seine Vorlesungen,<br />
um Zeit für seinen verwegenen Plan zu gewinnen: "Das Leben<br />
Jesu, kritisch bearbeitet." Es kam 1835 heraus und bildete sofort für manche<br />
Jahre den Mittelpunkt aller theologischen Streitigkeiten, nicht nur in<br />
Deutschland. Doch nur der theologischen; denn es war einseitig und beschränkt<br />
eingestellt, so rücksichtslos es auch alle Grundlagen der Christologie<br />
(und damit indirekt die der christlichen Dogmatik) vernichtete. Die Vernichtung<br />
des Glaubens an die Echtheit der Quellenschriften, die eigentliche Bibelkritik<br />
also, überließ er freilich gleichzeitigen und späteren Forschern; aber<br />
für die Geschichte des Stifters der christlichen Religion hat er, trotz mancher<br />
von Hegel übernommener Schnörkel, vor bald neunzig Jahren das letzte<br />
Wort gesprochen. Mit ruhiger Hand strich er zunächst alle Wunder aus<br />
dem Leben Jesu, von der Geburt bis zur Auferstehung, nicht wie die<br />
Rationalisten, um sie zu wunderlichen Allegorien zu verbessern, sondern<br />
einfach als ein Ungläubiger, der alles leugnete, was irgend den Naturgesetzen<br />
widersprach. Dann aber tat er den entscheidenden Schritt über<br />
die kecksten englischen Deisten hinaus, da er, aus der neuen historischen<br />
Schule hervorgegangen, alle die biblischen Erzählungen von Jesus für<br />
Sagen erklärte, die die Evangelisten in der mündlichen Überlieferung der<br />
kleinen Christengemeinde vorfanden und in gutem Glauben weitergaben.<br />
Und weil diese Erzählungen einen religiösen Inhalt hatten, vielleicht auch,<br />
weil er an die nicht mehr geglaubten Legenden der Griechen erinnern<br />
wollte, sagte er lieber Mythen anstatt Sagen. Außer diesem Begriffe<br />
und außer einer Darstellung in ganz weltlich schöner Sprache brachte<br />
Strauß in den beiden starken Bänden des „Leben Jesu" fast nichts Neues;<br />
dennoch war der Eindruck auf die protestantische Kirche noch niederschmetternder,<br />
als vor bald siebzig Jahren der Eindruck der von Lessing veröffentlichten<br />
Fragmente. Diesmal hatte kein politischer Aufrührer das Wort<br />
ergriffen, auch kein Religionsspötter, nicht einmal ein Antichrist; es hatte<br />
Strauß: "Leben Jesu" 179<br />
sich nur ein schlichter Gelehrter, der beste Kenner der Theologie, auf Grund<br />
seiner Untersuchungen zum Unglauben bekannt. Zu einem Unglauben,<br />
der gegenüber der Betrugshypothese früherer Jahrhunderte psychologisch<br />
sieghaft blieb; die Religionsstifter waren einst für alle Freidenker einfach<br />
Betrüger gewesen, für Strauß waren sie Schwärmer, die sich höchstens<br />
selbst betrogen. Das Erscheinungsjahr des „Leben Jesu", 1835, ist<br />
für alle religiösen Fragen das zweitwichtigste Jahr der deutschen Revolution;<br />
das erste war 1781 gewesen.<br />
Es ist für uns heute nicht leicht, die Tat des jungen schwäbischen Repetenten<br />
nach Gebühr zu würdigen; wir sind so weit über sein Ringen mit<br />
Hegel und der Bibel hinausgelangt, daß wir keine lebendige Freude mehr<br />
haben an seinem Siege über sich selbst und über die Pfaffen. Damals aber,<br />
in der revolutionären Stimmung nach 1830, als das junge Europa überall<br />
an die Ideale von 1793 anzuknüpfen suchte, war Strauß unter den Kämpfern<br />
des Tages der tapferste und zugleich der besonnenste. Gegen dreißig Jahre<br />
später (1864) gab er eine neue, populäre Bearbeitung des „Leben Jesu"<br />
für das deutsche Volk heraus; da zeigte es sich, daß er nicht süßlich und nicht<br />
kitschig genug war für das Volk; Renan hatte für seinen Jesus-Roman<br />
ein viel breiteres Publikum, auch in Deutschland.<br />
Will man, hinweg über Gunst und Ungunst der Zeit, das Liebens Selbstwerte<br />
in Straußens Persönlichkeit ganz erfassen, so lese man vor oder nach<br />
dem "Leben Jesu" die kurzen Selbstgespräche, die er unter dem Titel<br />
drucken ließ "Vergängliches und Bleibendes im Christentum". Zu seiner<br />
Persönlichkeit gehört es ja auch, daß er noch in den dreißiger Jahren in<br />
Württemberg unmöglich wurde, dann in Zürich eine Professur erhielt,<br />
doch noch vor Antritt dieser Stellung den interkonfessionellen Volksverhetzern<br />
zum Opfer fiel, daß er von da ab als freier Schriftsteller von<br />
den Erträgnissen seiner Feder lebte, vornehm und arm wie sein Vorbild<br />
Lessing. Es ist unerfreulich, mir wenigstens unverständlich, daß Strauß<br />
so schwer und so langsam auf eine akademische Laufbahn, auf eine Professur,<br />
verzichtete; es ist aber köstlich, wie Strauß trotzdem, da ihm die Aussicht<br />
auf Zürich winkte, das bißchen Positive, das er seinem Negativen<br />
hinzuzufügen hatte, just in dem freien "Vergängliches und Bleibendes"<br />
aussprach. Diese Selbstgespräche (mit einem Aufsatz über Justinus Kerner<br />
zusammen 1839 neu herausgegeben als "Zwei friedliche Blätter") sind,<br />
da er sie der Welt vorlegte, wieder zu einem Bekenntnisse geworden. Gleich<br />
die ersten Worte sind leidenschaftlich: "Nein! ich kann nicht, wenn ich auch<br />
wollte. Und könnt' ich's, so würd' ich's hoffentlich nicht wollen. Mir etwas<br />
vorspiegelen, nur um für mich Ruhe, mit anderen Frieden zu behalten."<br />
Es ist vorbei mit dem Dogmenglauben. Der Jüngste Tag und die Unsterb