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Band 4 - m-presse

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136 Viertes Buch. Dritter Abschnitt<br />

berühmt geworden ist: „Crainquebille, Putois, Riquet et plusieurs autres<br />

récits profitables." Der Atheismus in „Putois" ist infolge einer harmlosen<br />

Einkleidung fast unbeachtet geblieben, obgleich der Verfasser es an<br />

deutlichen, künstlerisch allzu deutlichen Winken nicht hat fehlen lassen.<br />

Es ist nur eine zulässige Notlüge von Madame Bergeret, der Mutter<br />

des wohlbekannten Mr. Bergeret, der lebendigsten Gestalt des Satirikers<br />

France, es ist aber doch eine Lüge, eine Erfindung, daß von einem nicht<br />

existierenden Gärtner geredet und ihm in der Verlegenheit der Name<br />

Putois beigelegt wird; um eine lästige alte Tante loszuwerden, ist Putois<br />

erfunden worden. Die Tante, lebhaften Geistes, sieht diesen bösen Geist von<br />

Putois wohl überall: er hat die kleinen Diebstähle ausgeführt, er hat ihre<br />

Köchin geschwängert; bald glaubt die ganze Ortschaft mit der Tante an<br />

das Dasein des erfundenen Putois; die Staatsbehörde stützt diesen Glauben.<br />

Arn Ende ist Mutter Bergeret selbst nicht mehr sicher, ob das Geschöpf<br />

ihrer Erfindung, Putois, nicht doch existiere. Eine ganz modern psychologische<br />

Verbesserung der Betrugs-Hypothese: der Betrüger wird gezwungen,<br />

an seine eigene Erfindung zu glauben.<br />

Ich habe schon bemerkt, daß Anatole France sich leider dazu verstanden<br />

hat, die feine und tiefe Parabel selbst zu deuten: man brauche<br />

für „Putois" nur Gott zu setzen, um die Fabel richtig zu verstehen. An<br />

Schönheit geht verloren, was an Deutlichkeit gewonnen wird. Die Kennzeichen<br />

des Putois werden wie eine Litanei aufgesagt; Putois hat keine<br />

Heimstätte und gilt den Leuten für allgegenwärtig; die Phantasie der<br />

Kinder wird durch Erzählungen von Putois so lange genährt, bis er zur<br />

Märchenwelt der Kindheit gehört; Putois wird geradezu ein Halbgott<br />

genannt.<br />

Noch poesieloser, aber auch noch gründlicher wird die Gleichsetzung<br />

von Putois und dem lieben Gotte da, wo Bergeret als Sprecher für<br />

France das Wort ergreift oder sich mit gleichgesinnten Freunden über<br />

den Fall Putois unterhält. So gibt er die eigentliche Moral der Fabel,<br />

da er erzählt, wie sein Vater sich zu der Legende „Putois" gestellt habe.<br />

„Notre père avait une grande pitié des hommes. Il ne les croyait pas<br />

très raisonnables; leurs erreurs, quand elles n'étaient point cruelles,<br />

l'amusaient et le faisaient sourire. La croyance en Putois l'interessait<br />

comme un abrégé et un compendium de toutes les croyances<br />

humaines" (S. 98). Womöglich noch blutiger ist der Hohn<br />

einige Seiten vorher (S. 81); da sagt einer: „Je ne sais plus qui a dit<br />

autrefois: 'Je suis celui qui est'. Excusez le défaut de ma mémoire. On<br />

ne peut tout se rappeler. Mais l'inconnu qui parla de la sorte commit<br />

une rare imprudence. En donnant à entendre par ce propos inconsidéré<br />

Anatole France 137<br />

qu'il était dépourvu d'attributs et privé de toutes relations, il proclama<br />

qu'il n'existait pas et se supprima lui-même étourdiment.<br />

Je parie qu'on n'a plus entendu parler de lui." Worauf<br />

Bergeret: „Vous avez perdu. Il a corrigé le mauvais effet de cette<br />

parole égoïste en s'appliquant des potées d'adjectifs, et l'on a beaucoup<br />

parlé de lui, le plus souvent sans aucun bon sens."<br />

Nur warne ich davor, die Freiheit des Franceschen Standpunktes zu<br />

überschätzen; sehr schön, wie da der Gottesbegriff in die Masse der Volksmythologie<br />

zurücksinkt; aber durch die ganze Einkleidung der Fabel oder<br />

Allegorie ist es verschuldet, daß der Angriff auf die alte Betrugshypothese<br />

hinausläuft, also wieder über die Ideen von Voltaire nicht herausgelangt.<br />

Das jüngste Geschlecht der Franzosen hat das Erbe von Voltaire und<br />

France nicht mehr angetreten, es ist nicht mehr kirchenfeindlich, gegenwärtig<br />

nicht; so nicht der auch in Deutschland zu rasch angepriesene Romain Rolland;<br />

er ist schon ganz atheologisch. Sein Held Johann Christoph wird<br />

zwar bereits in den Kinderjahren mit Gott fertig. „Ich mag ihn nicht<br />

leiden!" ruft er, indem er mit der kleinen Faust zum Himmel droht. Und<br />

der Dichter unserer Tage, vielleicht wirklich sonst nur ein großer Dichter<br />

des Tages, ist überhaupt so sehr ein Kind des 20. Jahrhunderts, daß er die<br />

Meinung des Mittelalters schroff in ihr Gegenteil verkehrt: oft sei auch der<br />

Verlust des Glaubens eine Wirkung der Gnade. Aber er ist ein Neuromantiker,<br />

fühlt gegen die Religion keinen Haß, nicht einmal Ironie;<br />

er ist auch der Religion und der Kirche gegenüber ein Pazifist. Als ob die<br />

Freidenkerei nicht Vorsorge zu treffen hätte gegen die Wiederkehr mittelalterlicher<br />

Pfaffentyrannei.<br />

Der Zeit nach und dem Raffinement nach ist Anatole France in<br />

seinen besten Büchern die äußerste Leistung des Freidenkens bei den<br />

romanischen Völkern. Ich hätte freilich noch eine Unmenge populärwissenschaftlicher<br />

und nur der Unterhaltung bestimmter Schriften nennen<br />

können, die beweisen, daß das breite Publikum von Andachtsschriften<br />

nichts mehr wissen will. Nicht als Ausnahme, nur als Beispiel will ich<br />

hier ein Machwerk nennen; und um eine Verwahrung dagegen einzulegen,<br />

daß ich solche Schriftsteller als Kommilitonen im Befreiungskampfe<br />

anzuerkennen habe. Und ich spreche diese Verwahrung lieber hier aus<br />

als an einer anderen späteren Stelle.<br />

Es gibt auch in der Gottlosigkeit eine Rückständigkeit, eine Reaktion,<br />

die zu veralteten, unwirksamen und dummen Formen des Kampfes<br />

führt; ich denke da nicht an die atheistische Propaganda, die in den ersten<br />

Jahren und Jahrzehnten der Sozialdemokratie die Ergebnisse der Religionskritik<br />

auch unter den unwissenden Proletariern verbreiten wollte;

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