Band 4 - m-presse
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382 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
Kirche bahnen; was um so rätselhafter ist, als Radbruch die Herrenworte<br />
der Bergpredigt für noch radikaler erklärt als etwa die Lehren des christlichen,<br />
doch ganz unkirchlichen Anarchisten Tolstoi. Worauf es dem Verfasser<br />
aber ankommt, das ist der Hinweis auf den tiefen Widerspruch<br />
zwischen dem Recht und der Religion. Recht und Unrecht seien wesenlose<br />
Begriffe, die im religiösen Denken überwunden werden. Ich wüßte nur<br />
nicht zu sagen, was da religiös zu denken vermag, da der Verfasser am<br />
Ende seiner Ausführungen ausdrücklich erklärt: daß uns kein geheimnisvolles<br />
höheres Organ als die Vernunft beschieden ist.<br />
Leonhard Ragaz, geb. 1868 in Graubünden, Pfarrer in Basel, von 1908 bis 1920<br />
Professor der Theologie an der Universität Zurich. Er ging, wie Kutter, von Blumhardt<br />
aus, stellte ihn aber erst in seinen späteren Schriften in den Vordergrund. In einer kleineren<br />
Schrift „Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart", sowie in einem Predigtband<br />
„Dein Reich komme", verkündigt er seinen religiösen Sozialismus. Er ging in gewissem<br />
Sinne den umgekehrten Weg wie Kutter. Dieser trat am Anfang seiner Wirksamkeit überaus<br />
scharf und apodiktisch auf und fand oder verlor sich allmählich in einem ärgernislosen Mystizismus,<br />
der seinen Niederschlag fand im "Bilderbuch Gottes für Groß und Klein". Ragaz aber<br />
wurde aus einem nüchternen, vorsichtigen Vertreter der Sache des Proletariats ein scharfer<br />
und rücksichtsloser Kritiker des Staates und der Kirche. Beider Freundschaft zur Sozialdemokratie<br />
aber erlitt während des Krieges, und noch mehr während der Revolution, eine<br />
gewisse Abkühlung. Besonders Ragaz wurde sich bewußt, daß die Sozialdemokratische Partei<br />
zu einer Kirche mit all ihren Schattenseiten geworden war. Er blieb jedoch Parteimitglied,<br />
obwohl ihm die Parteipäpste mehrmals die Exkommunikation androhten.<br />
Was Ragaz besonders auszeichnet, ist sein großer Mut, die Unerschrockenheit und Treue,<br />
mit der er zur Sache des religiösen Sozialismus steht. Er ist ein Kämpfer, der stets dorthin<br />
geht, wo es am gefährlichsten ist. Am meisten Haß von seiten der bürgerlichen Kreise und der<br />
Regierung trug ihm seine unablässige Propaganda für den Antimilitarismus ein. Im Jahre<br />
1920 trat er freiwillig von seiner Professur zurück, weil er es nicht mehr fertig brachte, junge<br />
Theologen für die von ihm als keiner Reform fähig erklärten Kirche auszubilden. Er verzichtete<br />
Neueste Vernunftreligion 383<br />
Auch der Theologe Tillich, der Verfasser des zweiten Vortrags („Über<br />
die Idee einer Theologie der Kultur"), ist kein Pfaff, wenn ihm auch die<br />
saubere Logik seines juristisch geschulten Genossen versagt ist; er beginnt<br />
mit schwerem, leider entsetzlich abstrusem Geschütz gegen den orthodoxen<br />
Standpunkt: Theologie könne nach Kant nicht mehr die Wissenschaft sein<br />
von einem besonderen Gegenstande, den wir Gott nennen; Theologie<br />
könne auch nicht eine Offenbarung wissenschaftlich darstellen, weil der<br />
Offenbarungsbegriff uns verloren gegangen sei. Die Gottlosigkeit — an<br />
Nietzsche geschult— scheint noch weiter zu gehen: die Kultur von Menschen<br />
Gott sei. Es ist typisch für die ganze religiös-soziale Bewegung, daß, mit wenigen Ausnahmen,<br />
auch auf die ihm zustehende Pension, obwohl er keine größeren eigenen Mittel besitzt. Von<br />
ihr prophetischer, enthusiastischer Charakter mehr in den Köpfen als in den Herzen ihrer,<br />
da ab arbeitet er im Arbeiterquartier Zürichs unter dem Proletariat. 1922 kamen gesam<br />
Anhänger ruht. Man hat ganz richtig erkannt, welches das Herzstück echter Religiosität ist,<br />
melte Aufsätze heraus, die er in der von ihm redigierten Zeitschrift „Neue Wege" veröffent<br />
man preist es und stellt es dem lendenlahmen Kirchenchristentum gegenüber, aber selbst ist<br />
licht hatte, unter dem Titel „Weltreich, Religion und Gottesherrschaft". Durch alle Aufsätze<br />
man auf diese Erkenntnis angewiesen; sind doch die meisten schon von der Theologie ver<br />
hindurch zieht sich der Glaube Ragazens: Und wenn das Chaos noch so groß ist, es muß und<br />
dorben und ist ihr Kampf gegen sie dem verzweifelten Toben des Fisches im Garn zu ver<br />
wird ein neuer Durchbruch göttlichen Lichtes in diese arme Welt hinein erfolgen. Gerade<br />
gleichen. Zwar werden die Propheten des Alten Testamentes wieder zu Ehren gezogen,<br />
das Chaos bürgt dafür. Es zwingt uns, unsere Augen zu einem neuen Himmel zu erheben,<br />
man holt ihre kraftgesättigten Reden wider König, Kultus und Reichtum hervor, aber sie<br />
von dem aus eine neue Erde werden soll. Aber los von der Kirche! Sie am allerwenigsten<br />
werden repetiert von solchen, die es vermögen, prophetischen Geist aufzuwärmen. So hat<br />
ist imstande, dem Kommen des Gottesreiches zu dienen. Es fehlt der Kirche der gewaltige<br />
sich, freilich inoffiziell, eine neue Theologie gebildet, die religiös-soziale. Die Theologie vom<br />
Ernst; sie spielt mit religiösen Gedanken; sie ist kein Sauerteig; sie liebedienert den Ver<br />
Gott, der nicht gerechtfertigt werden muß durch eine Theologie. Die Theologie von dem<br />
tretern der alten, unerlösten Welt. Die Reichgotteshoffnung Ragazens ist nicht klar umschreib<br />
Gott, der keiner Beweise bedarf, über den es keine Religionsphilosophie gibt. Viele haben<br />
bar. Sie schillert in verschiedenen Farben. Ragaz brachte in den Begriff des lebendigen<br />
aus der Verkündigung des lebendigen Gottes nur den Aufruf zum Sozialismus vernommen.<br />
Gottes einen puritanischen Einschlag und eine eschatologische Nuance.<br />
Andere reden nur von dem neuen Himmel und der neuen Erde, die kommen werden, aber<br />
Die übrigen Anhänger des religiösen Sozialismus vertreten alle möglichen politischen<br />
ihr Glaube stützt sich nicht auf eigene Prophetie, sondern auf fremde, in der Bibel erlesbare.<br />
und theologischen Richtungen. Es besteht in der Position weder eine Einheitlichkeit der Ideen,<br />
Darum hat sich innerhalb der Bewegung ein neuer Biblizismus breit gemacht, der sich nicht<br />
noch der Organisation. Auf die Frage "Was sollen wir denn tun?" werden die allerverschieden<br />
beirren läßt durch historische Einwände oder durch bibelkritische Einsichten. Viele wollen tätig<br />
sten Antworten gegeben. Die einen wollen grundsätzlich nichts tun und alles Gott überlassen;<br />
sein für das Reich Gottes, andere wollen abwarten, bis ein Deus ex machina das Reich<br />
bei ihnen hat sich der lebendige Gott zum Deus absconditus verflüchtigt. Darum hat sich<br />
heraufführt. Weitaus die ernsthafteste Gestalt unter den Religiös-Sozialen ist Leonhard auch an die Stelle des Enthusiasmus Ragaz. eine theologische Dialektik gesetzt, die in ihrem extremen<br />
Intellektualismus seltsam zum Antiintellektualismus Kutters kontrastiert, dessen verlorenes<br />
Kind sie nun eben ist. Die anderen versuchen, teils unter dem Gespött der vorigen, Kulturarbeit<br />
zu leisten; gründen Konsumvereine, veranstalten Arbeiterbildungskurse usw. Wieder<br />
andere haben ihre Köpfe an Münzerschem Revolutionseifer angewärmt und ergehen sich<br />
in Revolutionsromantik innert der vier Wände des Pfarrhauses. Und wieder andere huldigen<br />
der "stillen Revolution" des Herzens, die sich in den irrationalen Taten der Liebe auswirkt.<br />
Obwohl die Führer der Sozialdemokratie der Bewegung sehr skeptisch gegenüberstehen, teils,<br />
weil sie bei vielen Religiös-Sozialen den Wirklichkeitssinn vermissen, teils weil ihnen die<br />
theologische Terminologie verschroben und unverständlich vorkommt, haben da und dort<br />
meist jüngere Pfarrer unter Gefährdung ihrer Existenz Großes geleistet. Aber auch innerhalb<br />
der Kirche sind die Religiös-Sozialen zu einem Sauerteig geworden, der den älteren Herren<br />
schon oft den Magen verdorben hat. Gegenwärtig hat eine gewisse Selbstzersetzung der Bewegung<br />
eingesetzt, weil der Boden, auf dem allein eine solche Bewegung gedeihen kann,<br />
der religiöse und der sozialistische Enthusiasmus, sich versteinert hat: Der religiöse Enthusiasmus<br />
wurde von der Vertheologisierung des lebendigen Gottes verkalkt, und der sozialistische<br />
von der allgemeinen Ratlosigkeit und Skepsis, hervorgerufen durch die Verbürgerlichung<br />
der Sozialdemokratie auf der einen und die Bolschewisierung auf der anderen Seite."<br />
Ich werde sehr bald Gelegenheit haben, auf einen Gegensatz zwischen dem Deutschen<br />
Reich und der deutschen Schweiz hinzuweisen, auf einen Gegensatz, der entscheidend werden<br />
kann für die Frage der geistigen Befreiung: auf den Gegensatz in der Behandlung der<br />
Trennung von Schule und Kirche.