WAS TUT GUT? - Universiteit Twente
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sanftmütige Grundverfassung hat - all das findet aller Wahrscheinlichkeit nach seinen<br />
Niederschlag in den Zellen.<br />
Und wenn die geeigneten Leseinstrumentarien zur Verfügung stehen, kann es<br />
aus diesen auch wieder abgelesen werden. Die Proteinchiptechnologie wird über kurz<br />
oder lang ein Instrumentarium bereitstellen, das auf diesem Gebiet ganz neue<br />
Möglichkeiten eröffnet. Damit wird die individuelle Vergangenheit für andere in neuer<br />
Weise kontrollierbar; und zwar nicht nur auf Grundlage historischer Fakten, die mehr<br />
oder weniger vollständig der Interpretation sowohl derjenigen Person, die sie<br />
betreffen, wie auch der anderen, betrachtenden, anheim gestellt sind, sondern auf<br />
der Basis messbarer Größen. Für die Antwort auf die Frage: Wie hast Du bislang<br />
gelebt? wird - was eine erstaunliche Bandbreite von Facetten angeht - in Zukunft ein<br />
Expertenblick auf das Analyseergebnis eines Proteinchiptests ausreichen.<br />
Und anders als der Mensch, der, wenn man ihn befragt, dazu neigt, seine<br />
Geschichte im Licht gegenwärtiger Erfahrungen und Interessenlagen und im<br />
Wechselspiel mit seinem Gegenüber um- und umzuschreiben 58 , möchte man<br />
annehmen, die Moleküle zeigten ein objektiveres und damit „wahreres“ Bild des<br />
Geschehens 59 , da sie nicht interessengesteuert sind. Wir werden es also in Zukunft<br />
mit einer Wahrheitsmesslatte zu tun haben, die das Individuum nötigen wird, ggf.<br />
seine abweichende Darstellung der Gegebenheiten zu rechtfertigen. Oder sogar<br />
weiterführend: Es ist nicht abwegig, dass die Beweislast in strittigen Fällen, wo das<br />
wissenschaftliche Ergebnis der Selbstauskunft widerspricht, beim Individuum liegt.<br />
Wohlgemerkt geht es in unserem Zusammenhang nicht um strafrechtliche<br />
Vergehen, sondern um eine der körperlichen oder geistigen Gesundheit<br />
58 Die Schriftstellerin Siri Hustvedt beschreibt diesen Vorgang in ihrem Roman „Was ich liebte“<br />
folgendermaßen: „Wie jedermann schrieb Bill sein Leben um. Die Erinnerungen eines älteren Mannes<br />
sind anders als die eines jungen. Was mit vierzig lebenswichtig erschien, kann mit siebzig seine<br />
Bedeutung eingebüßt haben. Wir fabrizieren schließlich Geschichten aus den flüchtigen<br />
Sinneswahrnehmungen, von denen wir in jedem Augenblick bombardiert werden, eine<br />
bruchstückhafte Reihe von Bildern, Gesprächen, Gerüchen und der Berührung von Dingen und<br />
Menschen. Das meiste löschen wir, um in einem Anschein von Ordnung zu leben, und das<br />
Umgruppieren der Erinnerung geht so weiter, bis wir sterben“ S. 159<br />
Und an anderer Stelle heißt es: „Jede Geschichte, die wir über uns erzählen, kann nur in der<br />
Vergangenheit erzählt werden. Sie spult sich von dort, wo wir heute stehen, rückwärts ab, und wir<br />
sind nicht mehr ihre Akteure, sondern ihre Zuschauer, die sich entschieden haben zu sprechen.<br />
Manchmal ist die Spur hinter uns mit Steinen markiert, wie die, die Hänsel hinter sich fallen ließ. Dann<br />
wieder ist die Fährte fort, weil bei Sonnenaufgang die Vögel herabgeflogen sind und alle Krumen<br />
aufgepickt haben. Die Geschichte huscht über die Lücken und füllt sie mit der Hypotaxe eines ’und’<br />
oder ‚und dann’.“ S.471/2<br />
59 Vgl. Hans Achterhuis, Socrateslezing 1992. http://www.human.nl/hkc/socrates/1992.htm<br />
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