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Vom Ende der Zeiten

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2. Demokratische Täter-Opfer-Umkehr<br />

Tribalismus und Territorialität<br />

„In Hamburg versuchten in <strong>der</strong> Nacht zu Samstag rund 60 Türken, in das Lokal ‚Weindorf'<br />

einzudringen. Das Lokal ist als Skinhead-Treffpunkt bekannt. Als sie nicht hineingelassen<br />

wurden, schlugen sie mehrere Scheiben ein. Bei <strong>der</strong> heftigen Schlägerei erlitt ein 23-jähriger<br />

Deutscher einen Schädelbruch. 25 Türken wurden vorläufig festgenommen. Bei ihnen wurden<br />

Latten, Schreckschußwaffen und Baseballschläger sichergestellt." 496<br />

„Dann trägt <strong>der</strong> Anwalt Johannes Santen den eigentlich wichtigsten Punkt zur Begründung vor:<br />

‚Dieses Verfahren‘, sagt Santen, ‚ist kein normales Strafverfahren. Hier sind sechs Auslän<strong>der</strong><br />

angeklagt, die nicht mehr still und tatenlos zusehen wollten, die sich zur Wehr setzen und ihre<br />

Würde wie<strong>der</strong> herstellen wollten. Die Absurdität und <strong>der</strong> Zynismus, <strong>der</strong> darin liegt, unseren<br />

Mandanten einen Landfriedensbruch vorzuwerfen, ist offenkundig. Welchen Frieden gegenüber<br />

wem sollen unsere Mandanten gebrochen haben? Den Frieden, den faschistische<br />

Organisationen in diesem Land angerichtet haben und nach wie vor weitgehend ungehin<strong>der</strong>t<br />

gegen Auslän<strong>der</strong>, Juden und an<strong>der</strong>e verbreiten?‘ … In <strong>der</strong> Nacht vom 22. auf den 23.<br />

November 1992 zündeten die Jungnazis Lars Christiansen und Michael Peters in Mölln, vierzig<br />

Kilometer von Hamburg entfernt, zwei Häuser an, in denen türkische Einwan<strong>der</strong>er wohnten. …<br />

In <strong>der</strong> Woche nach <strong>der</strong> Tat gingen in den großen Städten Hun<strong>der</strong>ttausende auf die Straße und<br />

demonstrierten in Lichterketten gegen den Auslän<strong>der</strong>haß. In <strong>der</strong> Hamburger El-Aksa-Moschee<br />

nahmen Tausende Türken Abschied von den toten Arslan-Frauen. Auf dem Rathausmarkt<br />

demonstrierten sie anschließend ihre Trauer und ihre Angst. Dann fuhren die Hamburger<br />

Türken ruhig nach Hause, in die Stadtteile mit den weniger guten Adressen. Am Abend des 2.<br />

Dezember 1992 versammeln sich dort gegen Viertel vor acht etwa drei Dutzend junge Männer,<br />

die meisten von ihnen ausländischer Herkunft. In acht Personenwagen und einem angemieteten<br />

Kleinbus machen sie sich bald in das nur wenige Kilometer entfernte Halstenbek auf, das an<br />

Hamburg grenzt, aber schon zum Kreis Pinneberg in Schleswig-Holstein gehört. Manche haben<br />

Baseballschläger, abgebrochene Billardqueues und Stöcke bei sich. Als Zweck ihrer kurzen<br />

Fahrt werden einige von ihnen später bei <strong>der</strong> polizeilichen Vernehmung angeben, sie wollten<br />

‚Nazis aufmischen‘, weil ‚in Mölln das Maß voll‘ gewesen sei. In Halstenbek steuern sie die S-<br />

Bahn-Station Krupun<strong>der</strong> an. Dort warten auf dem Bahnhofsvorplatz gerade Jörg Groll und<br />

Andreas Weise auf ihre Freundinnen. Groll und Weise sind dank ihrer rasierten Schädel und<br />

Bomberjacken leicht als ‚Rechte‘ zu erkennen. Am <strong>Ende</strong> <strong>der</strong> Schlägerei zwischen Türken und<br />

Skins, in die rasch weitere ‚Rechtsextremisten‘ mit tränengasgefüllten Feuerlöschern eingreifen,<br />

steckt die sieben Zentimeter lange Klinge eines Schweizer Offiziersmessers in Grolls Rücken.<br />

Auch Weise ist übel zugerichtet, <strong>der</strong> Scirocco völlig demoliert. …<br />

Weit wichtiger als alle Politik ist ihnen das Wir-Erlebnis in <strong>der</strong> Clique. Warum sind sie dann nicht<br />

Pfadfin<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n ausgerechnet ‚Rechte‘? Carsten muß die Frage eine Weile in sich arbeiten<br />

lassen und nimmt einen ratspendenden Schluck aus <strong>der</strong> Bierdose. ‚Das fängt meistens auf <strong>der</strong><br />

Schule an‘, sagt er dann, ‚wenn du da Streß kriegst mit Auslän<strong>der</strong>n, wenn du zum erstenmal<br />

was auf den Kopf kriegst von denen, dann haßt du die auch, das geht ganz schnell. Und dann<br />

bist du auch immer im Unrecht, die Lehrer geben den Auslän<strong>der</strong>n recht.‘ ‚Genau‘, sagt Dennis,<br />

‚wir sind in <strong>der</strong> Schule ziemlich unterdrückt worden. Der Rektor hat dann verboten, daß wir<br />

Springerstiefel tragen und die Aufnäher ‚Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Wieso kann man<br />

so was verbieten, das ist doch ’ne Meinung?‘<br />

Sogar mit den Antifas kommen die vermeintlichen Jungnazis mitunter gut klar. Neulich hat Frank<br />

<strong>der</strong> Freundin seiner Freundin, die ist bei <strong>der</strong> Antifa, mal das Mofa repariert. Dadurch hat auch<br />

die ein an<strong>der</strong>es Bild von den ‚Rechten‘ bekommen. Frank: ‚Kurz danach hat in <strong>der</strong> Schule einer<br />

meine Freundin angemacht, dein Freund ist ein ‚Rechter‘ und so, ein richtiges Arschloch, weil<br />

die machen alles kaputt. Da hat die Antifa-Freundin gesagt: Du hast keine Ahnung, wie die drauf<br />

sind, kuck dir die mal an, die sind voll in Ordnung. ‚Das sind keine Intellektuellen, das sind<br />

Hauptschüler, Metallschlosser, Automechaniker.‘“ 497<br />

Auch wenn die zwei jungen Männer gar nichts mit dem Anschlag zu tun haben, so knallen doch<br />

oben immer die Korken, wenn Auslän<strong>der</strong> Deutsche ins Krankenhaus prügeln. An <strong>der</strong><br />

Rechtlosigkeit <strong>der</strong> Deutschen hat sich nach 1945 eigentlich nicht viel geän<strong>der</strong>t.<br />

496 WELT am SONNTAG, Nr. 48, „25 Türken nach Schlägerei festgenommen", 29.11.1992, S. 5<br />

497 DIE ZEIT, „Die Neonazis nebenan - Was tun gegen Rechtsextremisten? Mit ihnen reden, sie verbieten, sie<br />

verprügeln? In einem kleinen Ort bei Hamburg stört die neonazistische FAP die Bürgerruhe. Das Protokoll einer<br />

schwierigen Immunreaktion“, 22.04.1994, Artikel v. Wolfgang Gehrmann<br />

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