Vom Ende der Zeiten

5. VÖLKERWELT. Schönheit des Lebens
EHRE. Keine Tugend achteten die Germanen so hoch wie die Ehre, nichts war für ihn ein so
entscheidender Maßstab für alles, was er tat und ließ. Die Ehre war für ihn das geistige
Gegenstück zu Boden und Besitz. Der Ehrverlust rief vollständige Unsicherheit hervor. In der
Ehre des Einzelnen lag die Ehre der ganzen Sippe, mit dem Einzelnen war die ganze Sippe
gekränkt und verletzt. Das stark ausgeprägte Gefühl der Sitte steigerte noch die Empfindlichkeit
des germanischen Menschen, wenn er seine Ehre bedroht sah. Ein Wort, das ihn beleidigte,
eine Verletzung oder gar die Tötung eines Verwandten, ein Verstoß gegen das Besitzrecht
nötigten ihn, Gut und Leben aufs Spiel zu setzen und die angetane Schmach zu tilgen.
Heldenlied und Saga kündigen davon. Die Erhaltung der Ehre forderte daher Willenskraft und
Selbstüberwindung, Mut und Tapferkeit. Der Einsatz war hoch, aber der Gewinn größer. Er gab
das Gefühl des Glücks, des Friedens. Ehre und Frieden waren die Summe des Lebens.
TREUE. Das Wort Treue 1879 bedeutet zunächst Vertrag, Eid und das darauf gegründete
gegenseitige Verhalten zwischen Gefolgsherren und Gefolgsmannen, Herren und Knechten,
Mann und Frau. Die hohe Schätzung dieser Tugend finden wir schon bei Tacitus, wenn er zwei
friesische Fürsten ausrufen läßt, niemand auf Erden übertreffe die Germanen in Waffen und
Treue. Das Gebot der Treue findet sich immer wieder in Geschichte und Sage, sie ist die
vornehmste heilige Pflicht von der Zeit Tacitus an. Auch Ammianus Marcellinus erwähnt sie
gelegentlich anläßlich der Alemannenschlacht bei Straßburg (357 n. Chr.), nach dem
zweihundert Gefolgsleute mit ihrem König Chnodomar freiwillig in die Gefangenschaft gingen,
weil es ihnen Schmach schien, ihren Fürsten zu überleben. 1880
Diese hohe Auffassung von der Treue hängt mit religiösen Anschauungen zusammen. Das
freiwillige und in feierlicher Form gegebene Wort, das man unter Schutz der höheren Wesen
gestellt hatte, war eine bindende Macht, es schloß im Fall des Eidbruches die Selbstverfluchung
in sich und brachte Schande über die ganze Familie. In der Hauptsache galt die Treue aber nur
für die persönliche Beziehung von Mann zu Mann, da ein Gefühl für die Gesamtheit der Stämme
fehlte. Tief verwurzelt im altgermanischen Gefühlsleben war hingegen die Treue innerhalb der
Sippe, hier war sie angeboren, bedurfte keines Vertrages.
Aber die Germanen zeigten hinsichtlich der Treue Licht- und Schattenseiten. Das hat schon der
scharf beobachtende Tacitus erkannt. Die Beharrlichkeit im Schlechten, in der Rechthaberei, im
Eigensinn, in der Verbissenheit in gewissen Ideen zeigt der Römer an einem Beispiel auf:
‚Das Würfelspiel betreiben sie, was Verwunderung erregt, nüchtern wie eine ernste
Angelegenheit und mit solcher Verwegenheit im Gewinnen und Verlieren, daß sie, wenn alles
dahin ist, auf den allerletzten Wurf Freiheit und Leben setzen. Der Verlierer geht ohne
Widerspruch in die Knechtschaft. Wenn er auch jünger, wenn er auch stärker ist, läßt er sich
1879 Althochdeutsch triuwa
1880 Ammianus Marcellinus, „Res gestae“, XVI, S. 12, 60
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