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Vom Ende der Zeiten

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5. VÖLKERWELT. Schönheit des Lebens<br />

Kurz nach Kriegsende, im Juni 1945, bereiste <strong>der</strong> französische Schriftsteller Albert Camus als<br />

32-jähriger Mann Süddeutschland. Was er sieht, schil<strong>der</strong>t er in einem bewegenden<br />

Reisebericht. Vorab schil<strong>der</strong>t er, daß er erwartet, in ein gebeugtes Land zu kommen.<br />

„‚Für jemanden, <strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Hitlerschen Besatzung gelebt hat, behält Deutschland einen<br />

blutigen und blinden Wi<strong>der</strong>schein. Und wenn man es sich aus <strong>der</strong> Ferne vorstellen will, bedeckt<br />

von fremden Armeen, eingezwängt in von nun an feindliche Grenzen, seine Städte in unförmige<br />

Steine verwandelt, seine Menschen gebeugt unter <strong>der</strong> Last des furchtbarsten Hasses, malt man<br />

sich ein apokalyptisches Antlitz. Das jedenfalls war es, was ich undeutlich empfand, und alles<br />

was ich, unterwegs zur deutschen Grenze auf vom Krieg zerpflügten Straßen sah, bestätigte<br />

meine Vorahnung. Ist es also verwun<strong>der</strong>lich, daß man sich Deutschland mit einem von Bitterkeit<br />

zusammengezogenen Herzen nähert?‘<br />

Camus reiste weiter von Ostfrankreich nach Deutschland in den französisch besetzten Teil,<br />

nach Baden und Württemberg. Von hier berichtet er wie folgt:<br />

‚… kommt man in ein wohlhabendes Land voller prächtiger Kin<strong>der</strong>scharen, kräftiger und<br />

lachen<strong>der</strong> Mädchen. Auf den Wiesen wird <strong>der</strong> Reigen getanzt. Man pflückt bunte Blumensträuße,<br />

und die kleinen Kin<strong>der</strong> stecken Kirschen an ihre Ohren. Keine Männer, das stimmt.<br />

Aber friedliche Greisenpaare, die am Abend die Straßen auf und ab gehen, ordentlich<br />

gekleidete Heuwen<strong>der</strong>innen, elegante und saubere Spielzeugdörfer, mit allen Zeichen eines<br />

glücklichen und behaglichen Lebens. Kurz gesagt, man betritt ein idyllisches Deutschland, wo<br />

<strong>der</strong> Reisende für Augenblicke zu träumen glaubt. Vor allem die Schönheit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> ist<br />

atemberaubend. Am Vorabend meiner Abreise, im alten Montmartre erblickte ich die Kin<strong>der</strong> auf<br />

unseren Straßen. Hier dagegen kleine, fast nackte Körper, braungebrannt und kräftig, gut<br />

genährt, mit erhobenem Kopf und klarem Lachen. So gesehen läßt man sich leicht von <strong>der</strong><br />

Wahrheit einer amerikanischen Äußerung überzeugen, wonach Deutschland den Krieg<br />

biologisch gewonnen habe, als einziges Land in Europa.‘<br />

Danach befaßt sich Camus damit, wie die Deutschen damit umgehen, unter <strong>der</strong> Besatzung<br />

einer fremden Armee zu leben: ‚Aber dieses Land ist besetzt, besetzt von <strong>der</strong> französischen<br />

Armee. Das Wort ‚Besatzung‘ hat für uns einen Sinn. So war ich neugierig auf die deutschen<br />

Reaktionen, nun da das Blatt sich gewendet hatte. Nimmt man zu diesen Tatsachen hinzu, in<br />

welcher Ungewißheit über seine Zukunft sich Deutschland befindet, könnte man mit<br />

verzweifelten Reaktionen o<strong>der</strong> wenigstens mit Nie<strong>der</strong>geschlagenheit rechnen. Die auffälligste<br />

Eigenschaft <strong>der</strong> Deutschen unter <strong>der</strong> Besatzung ist, immer nach den ersten Eindrücken<br />

geurteilt, ihre Natürlichkeit.‘“ 1784<br />

1784 Aus dem von Jaqueline Lévi-Valensi herausgegebenen Buch, „Camus a Combat", Paris, 2002,<br />

s.a. Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 24.04.2003, S. 33<br />

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