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Vom Ende der Zeiten

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5. VÖLKERWELT. Schönheit des Lebens<br />

„Früher, als bekanntlich alles besser war,<br />

sprach man nicht über Emanzipation,<br />

jedenfalls nicht bei Traudl Well. …<br />

Traudl Well, robust an Magen und Gemüt,<br />

schlägt vor, von ihrem Leben zu erzählen,<br />

und das ist angesichts ihrer<br />

beeindruckenden Biographie tatsächlich<br />

eine gute Idee. Traudl Well sieht aus, wie<br />

man sich eine bayerische Bil<strong>der</strong>buchgroßmutter<br />

vorstellt: die weißen Haare<br />

hochgesteckt, die zierliche Gestalt in ein<br />

Dirndl gehüllt, dazu eine weiße Bluse und<br />

Strickjacke.<br />

Die Wohnstube ist gemütlich eingerichtet<br />

mit Kachelofen, Eckbank, Herrgottswinkel<br />

und schönen alten Bauernschränken. Frau Well lebt im oberbayerischen Günzlhofen, einem<br />

kleinen Ort zwischen München und Augsburg. Viele ihrer Kin<strong>der</strong> wohnen in <strong>der</strong> Nähe, vor allem<br />

die, die mit bayerischem Musikkabarett als ‚Die Wellküren‘ und ‚Biermösl Blosn‘ berühmt<br />

geworden sind. Traudl Well hat, gelinde gesagt, eine große Familie: 15 Kin<strong>der</strong>, 35 Enkel, 10<br />

Urenkel. Das erste und zweite Kind kamen 1941 und 1943, das letzte 1961 zur Welt.<br />

Alle ihre Kin<strong>der</strong> sind etwas geworden, 6 Musiker, 5 Lehrer, noch einige an<strong>der</strong>e Berufe, ‚ist kein<br />

Lump dabei‘, erzählt sie und lacht. Sie lacht gern und viel und findet, sie habe allen Grund dazu.<br />

Gesund ist sie, sehr sogar, nur ein Hörgerät muß sie manchmal anlegen. Und gesund ist<br />

wichtiger als emanzipiert, nicht wahr, denn ‚ohne Gesundheit kann man die ganze Emanzipation<br />

vergessen, da ist man ja als Frau dann nicht mehr selbständig‘.<br />

Sie steht jeden Morgen um 7 Uhr auf, kümmert sich um Haushalt und Garten und unterrichtet<br />

abends in Kursen sakrale Volks- und Klosterkunst, eine anspruchsvolle Bastelarbeit mit goldund<br />

silberumwickelten Drähten. Im Sommer fährt sie mit dem Mofa zwischen ihren vielen<br />

Kin<strong>der</strong>n und Enkeln hin und her o<strong>der</strong> in den Wald, um Pilze zu sammeln.<br />

Außerdem macht sie Musik mit ihrer Sippe, mal auf Theaterbühnen o<strong>der</strong> in Vereinshäusern, in<br />

letzter Zeit beson<strong>der</strong>s für die Opfer <strong>der</strong> Flutwelle in Asien. Regelmäßig musiziert sie auch in<br />

Krankenhäusern und Altenheimen, ‚für Senioren, das sind diese Leute in meinem Alter‘. …<br />

Ruhig erzählt sie von ihrer Geburt 1919 auf einem Bergbauernhof in Südtirol, daß ihre Eltern<br />

arm waren und sie deshalb nicht studieren konnte. Und als sie während des Zweiten Weltkriegs<br />

heiratete, war da auch kein Geld. ‚Alle waren arm‘, sagt sie, ‚deshalb war es nicht weiter<br />

schlimm. Man half einan<strong>der</strong>, wo man konnte, während und vor allem nach dem Krieg.‘<br />

350 Mark zum Leben im Monat bekam ihr Mann Hermann Well als Dorfschullehrer in den<br />

fünfziger Jahren. Da hatten die Wells schon sechs Kin<strong>der</strong>. Sie lebten damals auf dem Land bei<br />

Aichach und gingen pragmatisch vor: Die älteren Kin<strong>der</strong> halfen mit, es wurde ein Wochenplan<br />

erstellt; einer war fürs Putzen zuständig, einer fürs Windelwaschen, einer fürs Holzholen, ‚die<br />

Buben wie die Madeln, da gab es keinen Unterschied.‘ …<br />

Auch hielten es die Eltern Well für sinnvoll, jedes Kind ein Instrument lernen zu lassen, was den<br />

Lärmpegel im Haus beträchtlich werden ließ und später zu dem führte, was Traudl Well gern mit<br />

dem Begriff ‚Stubnmusi‘ beschreibt, zu Hochdeutsch: Hausmusik mit Instrumenten wie<br />

Hackbrett, Harfe, Trompete, Dudelsack, Gitarre, um nur einige zu nennen. Es gab we<strong>der</strong> Strom<br />

noch Fernseher damals, das Wasser mußte aus dem Dorfbrunnen herbeigeschafft werden, und<br />

wenn ein weiteres Kind mittels heftiger Wehen seine Ankunft ankündigte, sauste jemand mit<br />

dem Fahrrad zur Hebamme o<strong>der</strong> nahm kurzerhand die Skier. ‚Pampers gab es nicht. Und es<br />

war nicht so ein Getue mit den Kin<strong>der</strong>n, wie das heute manchmal ist‘, sagt Mutter Well.<br />

Mit Mehlspeisen, Kartoffeln, Milch und frischer Luft wurden die Kin<strong>der</strong> großgezogen, eine<br />

empfehlenswerte Mischung, wenn man sich die wohlgeratene Nachkommenschaft betrachtet.<br />

Die Musik tat ihr Übriges für gute Laune und Herzensbildung: Regelmäßig sang und spielte die<br />

Familie vor dem Babyzimmer, danach wurde, quasi als Belohnung, andächtig das jeweils neue<br />

Baby betrachtet. Die Familie lebte unten im Schulhaus, oben fand <strong>der</strong> Unterricht statt. ‚Es war<br />

eine harte Zeit damals‘, sagt Frau Well nachdenklich, ‚aber die Leute waren viel zufriedener.‘“ 1775<br />

1775 SPIEGEL SPEZIAL, „Die Deutschen - 60 Jahre nach dem Krieg“, 4/2005, S. 153-155<br />

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