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Vom Ende der Zeiten

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5. VÖLKERWELT. Schönheit des Lebens<br />

Tribalismus 1712<br />

„Jedes Gruppenethos geht stammesgeschichtlich auf<br />

das familiale Ethos zurück. Alle unsere Prosozialität<br />

ist, wie wir ausführten, familialen Ursprungs. Diese in<br />

<strong>der</strong> individualisierten Fürsorge für den Nachwuchs<br />

wurzelnden Anlagen verkümmern leicht in<br />

Gesellschaften, die die Familie nicht hochhalten und<br />

die es versäumen, durch Erziehung, anknüpfend an<br />

diese Veranlagungen, die uns nicht persönlich<br />

bekannten Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Nation, des Staates o<strong>der</strong> des<br />

Staatenbundes in das familiale ‚Wir-Gefühl‘<br />

einzubeziehen. Versäumen wir es, das Wir-Gefühl von<br />

<strong>der</strong> Basis her zu bekräftigen, dann wird uns eine<br />

weltweite Verbrü<strong>der</strong>ung wohl kaum gelingen.<br />

Ungeachtet dieser Tatsache wird immer wie<strong>der</strong><br />

behauptet, die Nationen wären Auslaufmodelle, sie gehörten abgeschafft, weil sie einer<br />

weltweiten Verbrü<strong>der</strong>ung im Wege stünden. Von einem ‚Irrweg des Nationalismus‘ spricht<br />

Heiner Geißler (1990) und empfiehlt einen ‚Verfassungspatriotismus‘, eine Wortschöpfung, die<br />

er Dolf Sternberger verdankt. Nur Bürokratenseelen können glauben, man werde eine<br />

Verfassung lieben. Menschen sind es, die wir lieben o<strong>der</strong> auch ablehnen. Liebe erfahren wir im<br />

freundlichen, mitmenschlichen Kontakt, zunächst in <strong>der</strong> Familie, desweiteren im kleineren<br />

Verband <strong>der</strong> Dorfgemeinschaft, im Freundeskreis, in <strong>der</strong> Schulklasse und den vielen an<strong>der</strong>en<br />

Möglichkeiten persönlicher Begegnung, die sich uns auch im Alltag <strong>der</strong> Großstadt bieten.<br />

Und dieser persönliche Umgang legt die Vertrauensbasis, die es uns ermöglicht, freundlich auch<br />

in <strong>der</strong> Großgesellschaft einer Nation und einer Europäischen Union aufzutreten. Vorausgesetzt,<br />

daß an<strong>der</strong>e es ebenso halten, auf die Bedeutung <strong>der</strong> Reziprozität für das Funktionieren einer<br />

Gemeinschaft wiesen wir schon hin. Mitmenschliche Identifikation auf diesen verschiedenen<br />

Ebenen ist schließlich Voraussetzung für die Identifikation mit <strong>der</strong> Menschheit. Rudolf Burger<br />

(1997) spricht von einer ‚falschen Wärme <strong>der</strong> Kultur‘: ‚Jede Behauptung o<strong>der</strong> Beschwörung<br />

einer wesenhaften Identität, sei sie definiert o<strong>der</strong> konstruiert wie immer, biologistisch o<strong>der</strong><br />

kulturalistisch, impliziert aber an sich schon die Ausgrenzung des Fremden, weil sie als Position<br />

nur als Negation dessen gewonnen werden kann, was nicht sie selber ist. Jede Identifikation ist<br />

eine Negation.‘<br />

Mit <strong>der</strong> Wahl des Begriffes ‚Negation‘ belastet Burger jede Form <strong>der</strong> Identifikation. Wer sich zu<br />

seiner Kultur bekennt, begeht nach ihm die Sünde <strong>der</strong> Negation. Darf sich also niemand mehr<br />

zu seinem Volk bekennen? Würde man Burgers Argument akzeptieren, dann müßte man auch<br />

von einer falschen Wärme <strong>der</strong> Familie sprechen. Denn auch diese grenzt sich normalerweise<br />

gegen an<strong>der</strong>e ab, und das wird letzten <strong>Ende</strong>s als Naturrecht überall anerkannt. Wo Besitz<br />

vererbt wird, wird die Erbfolge immer nach dem Grad <strong>der</strong> Verwandtschaft geregelt. Familien<br />

leben zwar von Abgrenzung, aber deshalb negieren sie doch nicht die an<strong>der</strong>en, mit denen sie ja<br />

interagieren und auf vielfältige Weise freundschaftlich, beruflich o<strong>der</strong> weltanschaulich verbunden<br />

sind. Wer das Bedürfnis hat, seinen familialen Bereich als Privatbezirk gegen eine Öffentlichkeit<br />

abzugrenzen, ist deswegen noch lange nicht ungesellig. Auch die Buschmannfamilie in <strong>der</strong><br />

Kalahari legt Wert darauf, ihre Hütte für sich allein zu haben.<br />

Jedes Wir setzt notwendigerweise An<strong>der</strong>e voraus. Und wenn man so will, ‚diskriminieren‘ wir, in<br />

<strong>der</strong> ursprünglich wertfreien Bedeutung des Wortes als ‚unterscheiden‘, in unserem Alltag<br />

unentwegt. Das hat durchaus auch seine positiven Seiten, wird doch unsere Fürsorglichkeit<br />

nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilt, so daß für jeden genügend Liebe übrigbleibt. Daß<br />

eine Mutter ihr Kind vor allem liebt und ein Liebespaar nur eben seinen Partner, ist<br />

soziobiologisch ebenso sinnvoll, wie gesellschaftlich. Und dabei ‚diskriminieren‘ wir nun alle<br />

einmal. Die beiden Säulen menschlicher Sozialität sind das Dominanzstreben und die auf<br />

Empathie (Einfühlungsvermögen) und Fürsorglichkeit begründete Prosozialität. Letztere, <strong>der</strong><br />

individualisierten Brutfürsorge entstammend, nutzen wir kulturell, um über Indoktrination und<br />

Symbolidentifikation Großgesellschaften zu Solidargemeinschaften zu binden, die als Stämme,<br />

Ethnien und Nationen auftreten.“ [8, Seite 15, 162-164]<br />

1712 Tribalismus, <strong>der</strong>;- (lat.-engl.) Stammesbewußtsein, Stammesegoismus<br />

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