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Vom Ende der Zeiten

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2. Demokratische Täter-Opfer-Umkehr<br />

„Moritz Schwarz im Interview mit dem<br />

Hauptangeklagten, Björn Liebscher (30). Herr<br />

Liebscher, vor 14 Monaten waren Sie<br />

Staatsfeind Nummer eins.<br />

B. L.: ‚Ja, wenn ich heute darüber nachdenke,<br />

erscheint es mir so völlig absurd. Damals habe<br />

ich nicht darüber nachgedacht. Ich war viel zu<br />

überrascht. Bewaffnete Polizisten, einer mit<br />

gezogener Pistole, haben mich aus dem Auto<br />

gezerrt und brutal abgeführt. Ich habe gar nicht<br />

gewußt, worum es geht, keiner hat mir was<br />

erklärt. Ich wurde herumgestoßen wie Vieh. Mein<br />

Gesicht war geschwollen, Tränen, und auch, wenn ich dafür kein Attest habe, ich behaupte, ich<br />

hatte davon eine Gehirnerschütterung.‘<br />

M. S.: Die Polizei sagt, Sie hätten ‚aktiven und passiven Wi<strong>der</strong>stand‘ geleistet.<br />

B. L.: ‚Das stimmt nicht. Damit wollten sie sich nur rechtfertigen.‘<br />

M. S.: Warum wurden Sie Ihrer Meinung nach so behandelt?<br />

B. L.: ‚Weil die Meldung von einem ‚rassistischen Mordversuch‘ damals nicht nur durch ganz<br />

Deutschland, son<strong>der</strong>n um die ganze Welt ging. Da hat man sich wohl gedacht, da kann man an<br />

mir die Sau rauslassen. Auch die Augen- und Ohrenklappen, Fuß- und Handfesseln, nicht die<br />

orangefarbene Jacke, die gehörte mir, die sie mir wie einem Guantanamo-Häftling verpaßt<br />

haben, damit wollte man wohl zeigen: Wir schlagen hart zu!‘<br />

M. S.: Ihr Freispruch gilt als ‚Freispruch zweiter Klasse‘, aus ‚Mangel an Beweisen‘.<br />

B. L.: ‚Ich war es nicht. Ich bin vor Gericht freigesprochen worden. Es gibt keine Beweise gegen<br />

mich. Was wollen sie eigentlich noch? Es kann nicht sein, daß man mich immer noch ‚irgendwie<br />

vielleicht für schuldig‘ hält. Soll das denn nie aufhören? Habe ich kein Recht auf Gerechtigkeit?‘<br />

M. S.: Wer ist dafür verantwortlich?<br />

B. L.: ‚Der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm. Auch von ihm heute kein Wort des<br />

Bedauerns. Von niemandem, auch von den Chefredakteuren <strong>der</strong> Zeitungen nicht.‘<br />

M. S.: Hat Nehm sich nicht nur dem Druck gebeugt?<br />

B. L.: ‚Ach, mein Schicksal hat ihn nicht interessiert.‘<br />

M. S.: Erinnern Sie sich nicht mehr an die ganz ungeheure öffentliche Empörung?<br />

B. L.: ‚Natürlich, ich verstehe ja die Aufregung, aber es war trotzdem nicht richtig. Wer ich<br />

wirklich bin und warum ich so etwas getan haben sollte, wollte keiner wissen. Ich war einfach<br />

nur <strong>der</strong> ‚Nazi-Schläger’.‘<br />

M. S.: Sie waren <strong>der</strong>, den für eine kurze Zeit je<strong>der</strong> ‚anständige Mensch‘ gehaßt und verachtet<br />

hat.<br />

B. L.: ‚Ja, es ist unglaublich, nicht? Aber ich habe damals nicht darüber nachgedacht, ich wollte<br />

nur raus, meine Unschuld beweisen.‘<br />

M. S.: Haben Sie nicht mal den Mut verloren?<br />

B. L.: ‚Natürlich gab es den Moment, ich war kurz davor, mich umzubringen, aber das wollte ich<br />

meiner Familie nicht antun, zumal es dann geheißen hätte, das ist ein Schuldeingeständnis.<br />

Aber als mir gesagt wurde, ich bekomme 15 Jahre bis lebenslänglich, da war ich am <strong>Ende</strong>. Und<br />

jeden Tag kamen sie mit neuen Indizien, und ich war es doch gar nicht, und trotzdem kamen sie<br />

mit immer neuen ‚Beweisen‘, und alle machten sie mit. Das ist irre, wie verrückt. Ich habe in den<br />

Spiegel geschaut und mich angesehen, um zu mir zu sagen: ‚Du warst es doch gar nicht.’‘<br />

M. S.: Jetzt haben Sie es überstanden.<br />

B. L.: ‚Nein, es ist nicht vorbei. Ich muß mein Leben neu beginnen. Meine Beziehung ist am<br />

Bröckeln. Ich mußte während <strong>der</strong> Haft erhebliche Schulden machen. Und die Leute fragen<br />

immer noch: ‚Waren Sie es nicht doch?‘ Ich wollte umziehen, habe die Wohnung nicht<br />

bekommen. Begründung: ‚Nicht an Sie, aus Rücksicht auf die Mieter.‘ Wenn ich einen<br />

Hubschrauber sehe, sehe ich ihn immer auf mich zufliegen. Sie kommen mich holen, immer<br />

wie<strong>der</strong>‘.“ 60 Haftentschädigungen will dieser Staat nicht zahlen. 61<br />

60 JUNGE FREIHEIT, Nr. 26/2007, „Das ist irre, wie verrückt - Interview: Björn Liebscher war nur <strong>der</strong> ‚Nazi-Schläger<br />

von Potsdam‘. Nun wurde er freigesprochen“, 22.06.2007, S. 6, Interview m. Moritz Schwarz<br />

61 NDR, „Silvester-Übergriffe: Freispruch und Entschädigung - Je<strong>der</strong> <strong>der</strong> Freigesprochenen bekommt für die<br />

Untersuchungshaft rund 4.600 Euro Entschädigung“, 01.11.2016<br />

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