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Vom Ende der Zeiten

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2. Demokratische Täter-Opfer-Umkehr<br />

Bild 117: Der Vorsitzende Richter im Solingen-Prozeß, Wolfgang Steffen, verurteilte in einem<br />

reinen Indizienprozeß auf <strong>der</strong> Basis erpreßter Geständnisse vier junge Männer zu Haftstrafen<br />

zwischen 10 und 15 Jahren. Dies tat er in vollem Bewußtsein, wohlwissend, daß es keine Beweise<br />

gab. Steffen bekannte dann auch: „Daß dieser Prozeß (für die Anklage) ‚schwierig‘ werden würde,<br />

vor allen Dingen nachdem man die Akten eingesehen und studiert hatte, war (uns) klar, daß es<br />

aber so erhebliche ‚Schwierigkeiten‘ (für uns) gab im Prozeß, das war nicht vorhersehbar.“ 637<br />

„Der Vorsitzende Richter Wolfgang Steffen erklärte am Freitag in seiner mehrstündigen und 128<br />

Seiten langen Urteilsbegründung: ‚Das erdrückende Maß an Schuld, die kaum zu bemessende<br />

Dimension <strong>der</strong> Tat und das unsagbare Leid für die Angehörigen <strong>der</strong> Opfer sind nur durch die<br />

Höchststrafen zu sühnen‘. Im Falle Gartmann verzichte das Gericht, so Richter Steffen, nur<br />

deshalb auf eine lebenslange Freiheitsstrafe, weil er zur Tatzeit durch einen Alkoholspiegel von<br />

mehr als 2,8 Promille in seiner Urteilsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei. ‚Blind und willkürlich<br />

setzten vier junge Männer, die rassistisches Gedankengut in sich trugen, das Haus einer<br />

türkischen Familie in Brand und töteten damit fünf Menschen‘, sagte <strong>der</strong> Richter. Die<br />

Wahrheitsfindung sei außerordentlich schwierig gewesen. Auch wenn viele Einzelheiten <strong>der</strong><br />

Tatnacht wohl für immer ungeklärt bleiben würden, habe es zuletzt ‚keinen begründeten Zweifel‘<br />

mehr an <strong>der</strong> Schuld <strong>der</strong> Angeklagten gegeben. Das Gericht habe den Grundsatz ‚Im Zweifel für<br />

den Angeklagten‘ nie außer acht gelassen. Bei seinem Urteil stützte sich das Gericht wesentlich<br />

auf das Geständnis von Markus Gartmann, in dem <strong>der</strong> 25-jährige den Anschlag als<br />

gemeinsame Tat aller vier bezeichnet hatte. Mit seinem Wi<strong>der</strong>ruf habe Gartmann ‚panikartig‘<br />

versucht, im letzten Moment den Kopf aus <strong>der</strong> Schlinge zu ziehen.“ 638<br />

„Senatsvorsitzende Steffen betont, dieser Mord sei aus niedrigen rassistischen Beweggründen<br />

begangen worden, und fährt fort: ‚Die Angeklagten haben diese brutale Tat begangen, weil sie<br />

auslän<strong>der</strong>feindlich eingestellt und von blindem Haß erfüllt waren‘.“ [26, Seite 99]<br />

REAKTIONEN. „Der Prozeß mußte sich auf Indizien stützen. Richter Steffen: ‚Es gibt dennoch<br />

keinen Zweifel an <strong>der</strong> Schuld <strong>der</strong> Angeklagten.‘ Als das Urteil verkündet wurde, bekam Felix<br />

Köhnen Weinkrämpfe, schluchzte: ‚Ich bringe mich um!‘ Christian Buchholz sank in sich<br />

zusammen, Christian Reher schloß die Augen.“ 639<br />

„‚Die Familie Genç tut mir sehr leid. Man kann sich nicht vorstellen, was die durchgemacht hat‘,<br />

sagt er, stockt, und dann: ‚Aber ich war es nicht.‘ Gartmann muß für 15 Jahre hinter Gitter, seine<br />

drei Komplizen dagegen bekommen jeweils zehn Jahre Haft nach Jugendstrafrecht.<br />

‚Ich bin unschuldig‘, schreit Arztsohn Felix Köhnen in die Verkündung des Urteils hinein,<br />

‚dreckige Schweine, Sauerei‘, ‚Scheiße, was ist das für ein Rechtstaat!‘ und ‚Das kann nicht<br />

sein‘. Die Beweislage war dünn, Gutachter und Ermittler hatten eklatante Fehler gemacht. ‚Es<br />

war schwierig‘, erinnert sich Steffen. Ob er das 345-seitige Urteil für richtig hält, darf er nicht<br />

sagen, das Beratungsgeheimnis des Senats gilt unbeschränkt. Nur soviel läßt sich <strong>der</strong> 74-<br />

Jährige entlocken: ‚Es hat nie einen Wie<strong>der</strong>aufnahmeantrag gegeben.‘ Allerdings habe ihm <strong>der</strong><br />

verurteilte Felix Köhnen einmal aus dem Gefängnis geschrieben und erneut seine Unschuld<br />

beteuert. ‚Natürlich kommen Sie da ins Grübeln‘, sagt Steffen. ‚Aber das ist ganz normal, vor<br />

allem wenn die Angeklagten hartnäckig leugnen‘." 640<br />

637 WDR, „Alle sind noch da, nur die Toten nicht - 20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen“, 28.12.2013,<br />

Aussage Steffens: Minute 25:17<br />

638 Berliner Zeitung, „Gericht: Nicht alle Einzelheiten wurden geklärt - Geständnis entschied“, 14.10.1995<br />

639 BERLINER KURIER, „Höchststrafen für Solingen - Mör<strong>der</strong>“, 14.10.1995<br />

640 DER SPIEGEL, „Auslän<strong>der</strong>feindlicher Anschlag in Solingen: Das Brandmal“, 27.05.2013<br />

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