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Flüchtlinge und das ‚Aushandeln

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nach Haus genommen. Ich sei zwar viel gebildeter als sie <strong>und</strong> stehe über<br />

ihr, aber <strong>das</strong> hätte ich nie tun dürfen, ich, der ich hier in Brasilien lebe<br />

<strong>und</strong> hier mein Brot verdiene. Sie habe auch mit anderen Personen gesprochen,<br />

die mehr verstehen als sie, <strong>und</strong> die auch ihrer Ansicht sind.<br />

Dona Erna ist uma santa [eine Heilige], für sie tut sie alles, sonst wäre<br />

sie sofort zur Delegacia gegangen <strong>und</strong> ich säße heute nicht hier. Mit mir<br />

ist sie fertig. Gegen dieses tief verletzte Gefühl nutzen alle Argumente<br />

nichts, zumal sie sie gar nicht anhört. (TB Bd. 15, 19.04.1943)<br />

Wie sehr Feder dieses Erlebnis beschäftigte, ist anhand der Ausführlichkeit zu<br />

erkennen, mit der er die Begebenheit im Tagebuch aufgezeichnet hat. Denn im<br />

Allgemeinen ging er, von für ihn wichtigen oder interessanten Gesprächen oder<br />

besonderen Vorkommnissen abgesehen, bei der Wiedergabe seines Tagesablaufes<br />

selten genauer ins Detail, die Eintragungen sind eher im Protokollstil gehalten.<br />

Aber dieser Zusammenstoß mit der Hausangestellten ließ ihn nicht unberührt. Die<br />

Gründe dafür waren vielschichtig. Als sachlicher Analytiker der politischen Verhältnisse,<br />

als der er jahrelange in Berlin tätig gewesen war, musste ihn <strong>das</strong> große<br />

Maß an Emotionalität in Alices Reaktion befremden. Auch die tiefe Verehrung,<br />

die sie dem Diktator zuteil werden ließ, war für Feder, der diesen Dingen eher<br />

rational gegenüberstand, nicht nachvollziehbar, ebenso wenig die Tatsache, <strong>das</strong>s<br />

sie <strong>das</strong> abgedruckte Foto von Vargas behandelte, als sei es eine Ikone <strong>und</strong> die<br />

Missachtung der Aufnahme als eine persönliche Beleidigung verstand. Tiefer als<br />

dieses Missverständnis, <strong>das</strong> auch auf Mentalitätsunterschieden – Europäer neigen<br />

gemeinhin zu einer zurückgenommenen Emotionalität, während Brasilianer<br />

oft gefühlsbestimmt agieren – beruht, musste ihn jedoch die Erinnerung<br />

daran getroffen haben, welche schutzlose Stellung er als Emigrant besaß. Denn<br />

indirekt deutete Alice nicht nur an, <strong>das</strong>s Feder als Emigrant, der in Brasilien<br />

Zuflucht gef<strong>und</strong>en hatte, dem brasilianischen Staat den nötigen Respekt <strong>und</strong><br />

seine Dankbarkeit erweisen müsse, sondern auch, <strong>das</strong>s ein vermeintliches Fehlverhalten<br />

seinerseits weit reichende Folgen haben könnte. Da dem Journalisten<br />

der Fall der deutsch-jüdischen Kommunistinnen Olga Benario <strong>und</strong> Elisa<br />

Ewert bekannt war, die Vargas beide an die Gestapo ausgeliefert hatte <strong>und</strong> die<br />

nach der Rückkehr nach Deutschland ins KZ kamen <strong>und</strong> dort starben (vgl. dazu<br />

MORAIS 2004), wusste er, welche Tragweite eine Anzeige bei der Delegacia für<br />

ihn als Emigrant haben konnte. Auch wenn Alice in ihren Vorwürfen auf Feders<br />

gefährdete Position anspielte, gab sie zugleich klar zu verstehen, <strong>das</strong>s sie ihre<br />

gesellschaftliche Stellung kannte <strong>und</strong> <strong>das</strong>s Feder als Europäer, obwohl Emigrant,<br />

über ihr stand, da sie indigener Abstammung war.<br />

Feder war es wichtig, die Gefühle der Hausangestellten zu achten, auf sie einzugehen<br />

<strong>und</strong> die Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Nicht weil die Gefahr<br />

durch eine eventuelle Anzeige aufgetaucht war, sondern weil er Alice als<br />

Mensch <strong>und</strong> ihre brasilianische Mentalität respektierte <strong>und</strong> auf sie eingehen wollte.<br />

So hielt er auch die abendliche Beilegung des Konflikts fest: „Alice versöhnt<br />

durch Exemplar completo [ein vollständiges Exemplar] der Getulio-Nummer des<br />

Malho <strong>und</strong> allgemeines Anstoßen mit portugiesischem Wein auf <strong>das</strong> Geburtstagskind“<br />

(TB Bd. 15, 19.04.1943).<br />

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