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Flüchtlinge und das ‚Aushandeln

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gen in Brasilien wurde die SIBRA in fußläufiger Entfernung zum traditionellen<br />

osteuropäisch-jüdischen Stadtviertel Bom Fim errichtet. Diese Wahl ist insofern<br />

bedeutsam, als sie die Vermutung nahe legt, <strong>das</strong>s die deutschen Juden in Porto<br />

Alegre – vielleicht wegen der geringeren Größe der Stadt <strong>und</strong> der jüdischen Bevölkerung<br />

– hofften, eine vereinte Gemeinde zu schaffen (vgl. LESSER 1989). Anders<br />

als in São Paulo <strong>und</strong> Rio de Janeiro, wo Reibungen zwischen deutschen<br />

Juden <strong>und</strong> früher eingewanderten osteuropäischen Juden sich steigerten, kam<br />

es in Porto Alegre zu einer Integration zwischen deutschen Juden <strong>und</strong> Mitgliedern<br />

der osteuropäischen Gemeinschaft, die sich dann der SIBRA anschlossen.<br />

Der Wunsch zur Schaffung einer vereinten jüdischen Gemeinde in Porto Alegre<br />

bedeutete jedoch kein Nachlassen der Bindungen an die deutsche Hochkultur,<br />

selbst unter denen, die vor dem NS-Regime geflohen waren.<br />

Anders als die SIBRA, wurde die jüdische Kongregation von São Paulo<br />

(Congregação Israelita Paulista – CIP) geschaffen „zu dem ausdrücklichen Zweck,<br />

die individuelle Adaptierung <strong>und</strong> <strong>das</strong> kollektive Überleben“ zu fördern<br />

(HIRSCHBERG 1976, S. 17). Die CIP wurde im Oktober 1936 eingeweiht, als<br />

erstmals ein junger Rabbi aus Heidelberg geschickt wurde, der die hohen<br />

Festtagsgottesdienste für die deutschen Juden in der Stadt halten sollte. Innerhalb<br />

eines Jahres war Rabbi Fritz Pinkuss gänzlich nach São Paulo übergesiedelt,<br />

um die CIP aufbauen zu helfen, deren Gebäude weit entfernt vom traditionellen<br />

Viertel der osteuropäischen Juden, Bom Retiro, errichtet wurde.<br />

Die CIP versuchte in aggressiver Weise ein deutsch-jüdisches religiöses <strong>und</strong><br />

soziales Leben wiederaufzubauen <strong>und</strong> betrieb aktiv eine Trennung von der<br />

bestehenden jüdischen Gemeinschaft. 33 Im Jahr 1938 schuf der Vorstand der<br />

CIP die Avanhandava-Pfadfindergruppe, die zum pädagogischen ‚Schlüssel‘<br />

bei der Erziehung der jüdischen Jugend wurde, ausgerichtet auf eine brasilianische<br />

Elitekultur (CYTRYNOWICZ / ZUQUIM 1999, S. 25).<br />

Alle deutsch-jüdischen Gemeindeorganisationen förderten nachdrücklich <strong>das</strong><br />

Erlernen des Portugiesischen. Dies beruhte auf dem Glauben der meisten deutschen<br />

Juden, von denen viele einen großbürgerlichen Hintergr<strong>und</strong> besaßen,<br />

<strong>das</strong>s jemand gleichzeitig ein guter Jude <strong>und</strong> ein guter Staatsbürger sein könnte.<br />

Die Beherrschung des Portugiesischen half der deutsch-jüdischen Gemeinschaft,<br />

sich sozial <strong>und</strong> ökonomisch zu integrieren. Die Integration geschah auch im Politischen,<br />

<strong>und</strong> die enge Beziehung zwischen Führern dieser Gemeinschaft <strong>und</strong> brasilianischen<br />

Politikern beeinflusste oft in positiver Weise die Einstellung der Regierung<br />

gegenüber den jüdischen <strong>Flüchtlinge</strong>n.<br />

V. Schlussbetrachtung<br />

Für die meisten deutschen Juden, war der Kampf, im überseeischen Refugium<br />

die nationale <strong>und</strong> ethnische Identität zu bewahren, eine komplexe Herausforderung.<br />

Diese Erfahrung im ausländischen Umfeld war eine Erfahrung der beständigen<br />

Unterscheidung <strong>und</strong> Abgrenzung, sei es von nicht-jüdischen Deutschen oder<br />

von anderen jüdischen Gemeinschaften. Die neue ‚Heimat‘ war für deutsche Ju-<br />

33. Interview des Verfassers mit Rabbi Fritz Pinkuss in São Paulo am 19. August l986.

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