Flüchtlinge und das ‚Aushandeln

hat. Auch werden im Gegensatz zu den deutschen Wandsprüchen die Tugenden
Hilfsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein gar nicht thematisiert.
Wenn man den Wandsprüchen glauben darf, scheint die Stellung der Frau in
der italienischen Kolonie durch einen gewissen pragmatischen Materialismus gekennzeichnet
zu sein. Nicht weniger als fünf Sprüche thematisieren das gute Essen
als die hauptsächliche Anziehungskraft für den Ehemann, wie z. B:
Um bom manjar prende o marido ao lar.
‚Eine gute Mahlzeit bindet den Mann ans Haus‘. 7
In einigen Fällen bietet das den Text begleitende Bild eine wertvolle Interpretationshilfe:
Assim como os pássaros voltam ao ninho, assim volta o esposo ao lar
que tem carinho.
‚Wie die Vöglein ins Nest zurückkehren, so kehrt der Mann ins Haus
zurück, wo Liebe herrscht‘.
In diesem Wandspruch wird das Wort carinho ‚Liebe‘ eher als materielle Fürsorge
verstanden (die Vöglein werden auf dem gestickten Bild gefüttert). Ein anderes
Beispiel für die Aufwertung der Esskultur bei den Italienern ist folgender Spruch:
O fogão é o altar da mulher.
‚Der Ofen ist der Altar der Hausfrau‘.
Eine Zählung der am häufigsten vorkommenden, leitmotivischen Wörter ergibt
ein ähnliches Resultat wie bei den deutschen Wandsprüchen. Die meisten
Belege zeigt das Wort Deus ‚Gott‘ (11) wozu auch 6 Belege von Senhor ‚Herr‘,
Cristo und Maria gezählt werden können. Casa und lar, Lexeme, die dem deutschen
Haus und Heim entsprechen, werden 7 bzw. 10 mal genannt. Danach folgen
Zusammensetzungen mit am- (amar, amor, amado) ‚lieb(e, en)‘ (10). Von ‚Arbeit‘
trabalho, labor wird neunmal gesprochen und von paz ‚Friede‘ sechs. Verglichen
mit dem deutschen Material enthält das italienische mehr Wörter für Reichtum
(rica, riqueza, fortuna, fartura, sorte) und die damit zusammenhängende Eigenschaft
economia ‚Sparsamkeit‘.
Interpretationen der beiden mentalen Kulturen
Die das Projekt Imagens e Palavras begleitende Analyse gibt eine interessante,
jedoch nicht ganz überzeugende Deutung von der Rolle der italienischen
Wandsprüche in ihrem damaligen Kontext. Demnach werden sie nicht als Spiegel
der Wirklichkeit, sondern als Traumbild der ersehnten und gerade nicht
vorhandenen Verhältnisse verstanden. Wenn von guten Mahlzeiten, sauberen
Küchen, friedvollem Zusammenleben gesprochen wird, sei das ein Zeichen
der Abwesenheit gerade dieser Sachen. Die Wandsprüche würden das
ausdrücken, was die Einwanderer ersehnen, nämlich den Aufstieg in eine kleinbürgerliche
Gesellschaft. Die Tatsache, dass man seine Wände mit solchen
7. Man vergleiche das deutsche Sprichwort Die Liebe geht durch den Magen, das aber kein
Thema für einen Wandspruch und in meiner Sammlung nicht belegt ist.
317