Flüchtlinge und das ‚Aushandeln

und Pudovkin u. a. auch der brasilianische Stummfilm Limite (1931) von Mário
Peixoto, einer legendären Figur des brasilianischen Kinos und neben Regisseuren
wie Martin Scorsese, Nelson Pereira, Tomás Gutiérrez, Wim Wenders oder Michelangelo
Antonioni eine der zentralen Inspirationsquellen für die eigene Filmkarriere.
Walter Salles lernte Peixoto (1908-1992) Ende der 80er Jahre persönlich kennen,
unterstützte den in Not geratenen Regisseur und Schriftsteller finanziell und gründete
nach seinem Tod das Arquivo Mário Peixoto, das in seiner Produktionsfirma
VideoFilmes untergebracht ist. 4 Mário Peixoto drehte 1930 als junger Mann von 22
Jahren seinen ersten und einzigen Film, Limite (Uraufführung 1931), einer der großen
Avantgarde-Filme, aber alle Versuche, einen weiteren Film fertig zu stellen,
scheiterten (s. KORFMANN 2006). Eine neu restaurierte Fassung von Limite wurde
2007 bei den Filmfestspielen in Cannes im Programm Cannes Classics als ein Beitrag
der von Martin Scorsese ins Leben gerufenen World Cinema Foundation gezeigt und
von Salles vorgestellt. Peixotos (unvollendetes) zweites Werk hatte den Arbeitstitel
Onde a terra acaba (Wo die Erde aufhört, nach Luís Vaz de Camões). Dies ist auch
der Titel eines Dokumentarfilms über Mário Peixoto, gedreht im Jahr 2001 von
Sérgio Machado, dem langjährigen Assistenten von Walter Salles. Peixoto schrieb
außerdem einen 6-bändigen, etwa 2000 Seiten umfassenden Roman mit autobiographischen
Zügen (O inútil de cada um), von dem bisher leider nur der erste Band
erschienen ist. Behind the Sun enthält mehrere versteckte Referenzen zu Peixoto; so
heißt etwa eine der Hauptfiguren „Breves“ – Peixoto hieß laut Geburtsurkunde Mário
Rodrigues Breves Peixoto –, und es findet sich eine Dialogsequenz, die direkt aus
dem Roman von Peixoto übernommen wurde.
Zusammenfassend lassen sich also in der Arbeit als Regisseur und Produzent
von Walter Salles folgende Grundmuster ausmachen: zum einen die bewusste
Einordnung seiner Werke in die brasilianische Filmtradition, wobei es nicht so
sehr um die Aufnahme oder Weiterentwicklung bestimmter stilistischer Elemente
geht – seine eigene Filmästhetik etwa zeigt keinerlei Parallelen zu den experimentellen
Formen Peixotos –, sondern in erster Linie um die Absicht, das nationalregionale
Kino in seiner ganzen Vielfalt zu begreifen und fortzusetzen. Dazu gehört
eben auch, dass die häufig geäußerten Erwartungen an ein primär sozialkritisch-realistisch
geprägtes Kino aus Brasilien oder Lateinamerika als Fremdbestimmung
und als reduktionistisch zurückgewiesen werden. Im Zusammenhang
damit kann man zum Zweiten die Bemühungen verstehen, Filme zu drehen und
zu fördern, die – jeder auf eigene Art – kinematographisch kreativ sind und nicht
zu einer televisiven Erzählform verkommen, sich also zum einen aus den Traditionen
eines internationalen Weltkinos heraus entwickeln, andererseits aber auch
regionale Geschichte, Landschaften, Gesichter und Thematiken einbeziehen. Drittens
kommt noch die Annäherung von Dokumentar- und Spielfilm hinzu, wobei
der erste sozusagen ein vorläufiges Abtasten des Themas bedeutet, einen Rahmen
absteckt bzw. ein Netzwerk bildet, in dem die eigentliche Filmarbeit dann
auch Raum zu Improvisation und Variation lässt. Ob dieser Spagat zwischen Weltkino
und regionaler Identität im Einzelfall immer geglückt ist, soll dahingestellt
bleiben. So kann man tendenziell sicher feststellen, dass die Anfangssequenzen von
4. Einen Überblick zu Peixoto bietet die website www.mariopeixoto.com
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