Flüchtlinge und das ‚Aushandeln
Flüchtlinge und das ‚Aushandeln
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überlebt hatte (GUINSBURG 1995a, S. 158). 3 Welche auch immer seine Beweggründe<br />
gewesen sein mögen, Brasilien wurde ihm zur zweiten, zur neuen Heimat.<br />
Auch die Landessprache eignete er sich in Wort <strong>und</strong> Schrift nicht nur schnell an,<br />
sondern erreichte in ihr herausragenden Ausdruck <strong>und</strong> Stil (SCHWARZ 1987).<br />
Während der ersten Jahre in Brasilien verdingte er sich als Arbeiter auf einer<br />
Kaffeeplantage bei Campinas, danach verkaufte er als Handlungsreisender Krawatten<br />
in Mato Grosso (vgl. SCHWARZ 1987; ALMEIDA PRADO 1995). Osman Lins<br />
berichtet, <strong>das</strong>s er sogar <strong>das</strong> Angebot seines Arbeitgebers, Gesellschafter zu werden,<br />
ausschlug <strong>und</strong> sich mit dem Ersparten daran machte, sich den Weg „zurück“ in den<br />
Bereich der Literatur zu erschließen (LINS 1995, S. 31f.). Er schrieb Buchbesprechungen<br />
<strong>und</strong> Artikel zunächst vor allem für Publikationen der jüdischen Gemeinde<br />
<strong>und</strong> Vereine in São Paulo (GUINSBURG 1995b, S. 63f.), arbeitete aber zunächst<br />
bewusst nicht für die neu entstandenen deutschen Presseorgane (FURTADO<br />
KESTLER 1992, S. 113). 1956 schließlich wurde er auf Initiative von Antonio Candido<br />
mit der Sparte „deutschsprachige Literatur“ im von Décio de Almeida Prado geleiteten<br />
Kulturteil der Tageszeitung O Estado de São Paulo betraut <strong>und</strong> übte diese Funktion<br />
bis 1967 aus (vgl. CANDIDO 2005, ALMEIDA PRADO 1995). 1962-67 übernahm<br />
er auf Initiative des damaligen Direktors Alfredo de Mesquita eine Lehrtätigkeit an<br />
der Escola de Arte Dramática der Universidade (EAD) de São Paulo. Diese Zeit gilt<br />
sowohl im Leben <strong>und</strong> Werk Rosenfelds als auch in der Geschichte der EAD als<br />
besonders produktiv <strong>und</strong> prägend (MESQUITA 1995, S. 70f.).<br />
Im Rahmen der im Martius-Staden-Jahrbuch des vergangenen Jahres 2006 vorgestellten<br />
Analyse der Dialektik von kultureller Aneignung <strong>und</strong> Vermittlung im Werk<br />
von Otto Maria Carpeaux, der seine Heimat Österreich nach deren „Anschluss“ an<br />
<strong>das</strong> nationalsozialistische Deutschland verlassen musste <strong>und</strong> in Brasilien zu einem<br />
der einflussreichsten Literaturwissenschaftler des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde (vgl.<br />
VEJMELKA 2006), habe ich diesen in eine Gruppe deutschsprachiger Intellektueller<br />
im brasilianischen Exil eingereiht, innerhalb derer Anatol Rosenfeld eine nicht weniger<br />
herausragende Position einnimmt. Dies gilt in zweifacher Hinsicht: Zum einen<br />
leistete Rosenfeld gr<strong>und</strong>legende <strong>und</strong> bis heute prägende Beiträge zur Rezeption<br />
deutschsprachiger Schriftsteller <strong>und</strong> vor allem Dramatiker sowie allgemein zur Literatur-<br />
<strong>und</strong> Theatertheorie in Brasilien; zum anderen vollzog er auf einzigartige Weise<br />
<strong>und</strong> in kaum vergleichbarem Umfang die Geste einer kulturellen Vermittlung in<br />
zwei Richtungen <strong>und</strong> Sprachen, auf Portugiesisch <strong>und</strong> auf Deutsch, von Deutschland<br />
nach Brasilien <strong>und</strong> insbesondere auch umgekehrt. 4<br />
3. Julieta de Godoy Ladeira äußert die allgemeine Vermutung, die Erfahrung der Vertreibung habe<br />
in Rosenfeld so stark nachgewirkt, <strong>das</strong>s sie den Wunsch nach einer Rückkehr oder Remigration<br />
nicht aufkommen ließen. „Zurückkehren? Daran dachte er [Rosenfeld] nicht. [...] Die Gründe, die<br />
ihn zum Weggehen gezwungen hatten, wogen wohl noch immer so schwer, <strong>das</strong>s sie jeden<br />
Wunsch nach Rückkehr ausschlossen.“ („Voltar? [Rosenfeld] não pensava nisso. [...] as razões que<br />
o forçaram a sair deveriam ainda pesar bastante, afastando qualquer desejo de retorno. [...]<br />
Assim não havia para onde ou por que voltar.“ GODOY LADEIRA 1995, S. 25)<br />
4. Aus diesem Gr<strong>und</strong> zählt Anatol Rosenfeld neben Otto Maria Carpeaux, Sérgio Buarque de<br />
Holanda, Vianna Moog <strong>und</strong> Mário de Andrade zu den brasilianischen Denkern mit biographischem<br />
oder thematischem Bezug zum deutschsprachigen Raum, deren Wirken im Rahmen<br />
des Forschungsprojekts „Brasilianische Intellektuelle: transkulturelle Dynamiken <strong>und</strong><br />
transdisziplinäre Essays“ unter Leitung von Prof. Ligia Chiappini am Lateinamerika-Institut<br />
der Freien Universität Berlin untersucht werden soll.<br />
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