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Flüchtlinge und das ‚Aushandeln

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ten, lenkten ihre Ressentiments oft gegen osteuropäische Juden, die als unproduktiv<br />

galten (da sie allgemeiner Ansicht nach nur hausieren gingen) <strong>und</strong> zudem<br />

nicht wirklich als Weiße. Die Stellung der deutschen Juden jedoch war weniger<br />

klar. Sie waren in hohem Maße staatsbürgerlich gesinnt, sprachen dieselben Sprachen<br />

wie andere nicht-jüdische Einwanderergruppen in Brasilien <strong>und</strong> waren<br />

politisch gemäßigt oder konservativ. Deutsche Juden galten auch als hoch gebildet,<br />

qualifiziert <strong>und</strong> als Immigranten, die Kapital für Investitionen mitbrachten,<br />

was tatsächlich oft der Fall war. So kommentierte der nicht-jüdische Herbert V.<br />

Levy, seinerzeit ein junger Journalist (<strong>und</strong> später B<strong>und</strong>esabgeordneter aus São<br />

Paulo sowie Generaldirektor der Finanzzeitung Gazeta Mercantil) in seinem Buch<br />

Problemas actuaes da Economia Brasileira (1934), durch Deutschlands antisemitische<br />

Kampagne biete sich Brasilien „die Gelegenheit, die Besten in den Künsten,<br />

den Natur- <strong>und</strong> Geisteswissenschaften, der Wirtschaft zu empfangen“, <strong>und</strong> in allen<br />

Bereichen kultureller Aktivität seien die deutschen Juden „von unschätzbarem<br />

Wert für den Fortschritt <strong>und</strong> die kulturelle Entwicklung“(LEVY 1934, S. 104).<br />

Es ist ein ironischer Umstand, <strong>das</strong>s, während die etablierte osteuropäisch-jüdische<br />

Gemeinschaft <strong>das</strong> gängige Bild von den deutschen Juden für den Kampf<br />

gegen den Antisemitismus einsetzte, die deutschen Juden selbst sich dagegen<br />

aktiv von allem absetzten, was ihnen als die unter ihrem Niveau stehende Kultur<br />

dieser Gemeinschaft osteuropäischer Herkunft galt. 27 Dies, glaubten sie, würde<br />

verhindern können, <strong>das</strong>s sie von den Nativisten negativ eingestuft würden, welche<br />

<strong>das</strong> Hausieren <strong>und</strong> den kollektiven Zusammenhalt der osteuropäischen Juden<br />

attackierten. Die deutschen <strong>Flüchtlinge</strong> entstammten in der Tat einer europäischen<br />

industriellen Kultur, die vielen Brasilianern der Mittel- <strong>und</strong> Oberklasse<br />

ein Vorbild zur Nachahmung war. Deutsch-jüdische Organisationen legten zudem<br />

Wert auf Erteilung von Portugiesischunterricht an ihre Mitglieder, was selbst<br />

Nativisten schwerlich kritisieren konnten. Sie schufen gleichzeitig Einrichtungen,<br />

die insbesondere auf die Förderung eines deutschen sozialen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Lebens ausgerichtet waren, <strong>und</strong> unter den <strong>Flüchtlinge</strong>n gab es selten ein Nachlassen<br />

der Bindungen zur deutschen Hochkultur (LESSER 1989). Herbert Caro,<br />

ein aus Berlin stammender Jurist, der die Israelitisch-Brasilianische Gesellschaft für<br />

Kultur <strong>und</strong> Wohltätigkeit (SIBRA) zu gründen half, übersetzte Thomas Mann (der<br />

ebenfalls aus Deutschland flüchtete) <strong>und</strong> Hermann Hesse für die Editora do Globo,<br />

dem großen Verlagshaus, unter dessen Titeln sich auch eine Menge antisemitischer<br />

Schriften aus Europa fanden (CARO 1986, S. 48).<br />

Die ‚jüdische Frage‘ wurde zunehmend komplizierter, als eine große Zahl solcher<br />

zentraleuropäischen <strong>Flüchtlinge</strong> nach Brasilien kam. Eine Reihe einflussreicher<br />

Brasilianer begann nun, ohne die Beschränkungen preisgeben zu wollen, gleichzeitig<br />

eine fortgesetzte oder erweiterte jüdische Immigration zu unterstützen. Keiner<br />

jedoch schlug vor, aufgr<strong>und</strong> humanitärer Prinzipien eine völlig offene Politik<br />

zu gewähren. Wie in einigen Fällen der Nazi-Politik, wo gewisse Juden in ihren<br />

Positionen geduldet wurden, solange sie wirtschaftlich ‚nützlich‘ waren, argumentierten<br />

einige Diplomaten <strong>und</strong> Journalisten, <strong>das</strong>s nur vermögenden oder qualifizierten<br />

<strong>Flüchtlinge</strong>n die Einreise erlaubt werden solle. Die gut etablierte Zeitung<br />

27. Interview des Verfassers mit Rabbi Fritz Pinkuss in São Paulo am 19. August 1986.

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