Flüchtlinge und das ‚Aushandeln

durch kontradiktorische Ratschläge gegeben werden, wie etwa in den beiden
Sprüchen Eile mit Weile und Zeit ist Geld. Sie könnten also nicht Anspruch auf
absolute Wahrheit erheben, sondern seien nur partiell gültige Lebensregeln, von
Kontext und Situation abhängig.
Dies ist jedoch eine Unterschätzung der Allgemeingültigkeit der Sprichwörter.
In jeder Wahlsituation liegen nämlich zwei grundlegende Handlungsalternativen
vor, wie etwa handeln oder sich zurückhalten, akzeptieren oder abweisen, bzw.
geben oder behalten. Diese Alternativen entsprechen Auswegen, die einander
gegenübergestellt und situationsgemäß abgewogen werden müssen, um das jeweils
richtige Verhalten zu erkennen. Es muss also widersprüchliche Sprichwörter
geben, damit sie den Normen der jeweiligen Kultur entsprechend in verschiedenen
Situationen eingesetzt werden können.
Kann man aber von solchen universellen Wahrheiten Schlüsse auf Nationaleigenschaften
ziehen? Dieselbe Botschaft ist ja in vielen Ländern der Welt lexikalisiert
worden. Trotzdem können meines Erachtens Gebrauchsfrequenz und Varianz
Aufschlüsse über den Stellenwert eines Sprichworts in einer Sprachgemeinschaft
geben und somit gewisse Schlüsse zur Prioritätensetzung der jeweiligen mentalen
Kultur ermöglichen.
Falsch und richtig in verschiedenen mentalen Kulture
Ethische Konzepte und mentale Kulturen – ein Forschungsprojekt
Um herauszufinden welche Eigenschaften und Verhaltensweisen in der untersuchten
ethnischen Gruppe in Rio Grande do Sul durch die Wandsprüche
priorisiert wurden, habe ich versucht, sämtliche 133 Sprüche zu analysieren
und sie in Kategorien einzuteilen. Dabei habe ich das Beschreibungsmodell des
internationalen Forschungsprojekts Ethische Konzepte und mentale Kulturen benutzt
(s. STEDJE / STOEVA-HOLM 2004; TORNQUIST 2003). Hier wird versucht,
das in der Sprache verborgene Wissen über Mentalitätsunterschiede methodisch
aufzubereiten. Man geht davon aus, dass Sprache und Denken eng miteinander
verknüpft sind und als gegenseitiger Spiegel fungieren können. Themen,
Fragen, und Wertungen, die in einer Kultur aktuell sind, finden im Wortschatz
der betreffenden Sprache ihren Ausdruck, während das weniger Bedeutsame
sprachlich nicht repräsentiert wird. Eine Untersuchung der Sprache einer bestimmten
Gruppe im ethischen Bereich müsste also vieles über die dort vorherrschende
Mentalität aussagen.
Durch vergleichende Wortschatzuntersuchungen zweier Sprachen in Bereichen,
die menschliche Eigenschaften, Reaktionen und Verhaltensweisen beschreiben,
wie Stolz, Fleiß, Wut, Großzügigkeit konnten in der Projektarbeit unterschiedliche
Einstellungen in Bezug auf Selbstwert, Arbeit, Gefühlsdarbietung und Besitztum
aufgezeigt werden. So findet man z. B. im Spanischen vergleichsweise mehr
positiv wertende Ausdrücke für Stolz und dazugehörige Begriffe, im Deutschen
wie im Schwedischen entsprechend mehr Wörter und Phraseme für Fleiß als für
Erholung. Neuwörter machen hier Veränderungen und Modeerscheinungen der
Zeit sichtbar, indem einerseits gewisses Verhalten empfohlen wird (Relax) und
andererseits vor Übertreibungen gewarnt wird (Workaholic, Kaufwut).
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