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Flüchtlinge und das ‚Aushandeln

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um den ärmlichen <strong>und</strong> unreinlichen Hausrath zu überschauen. Noch<br />

nirgends war <strong>das</strong> rohe Elend des americanischen Wilden so unheimlich<br />

<strong>und</strong> traurig erschienen. Alles deutete darauf hin, <strong>das</strong>s selbst die einfachsten<br />

Bedürfnisse auf eine fast thierische Weise befriedigt würden.<br />

(SPIX / MARTIUS 1980, S. 1071)<br />

Laut der Beschreibung waren die Männer, Frauen <strong>und</strong> Kinder total unbekleidet.<br />

„Der Ausdruck der Physiognomien war wild, unstät <strong>und</strong> niedrig“ (ebd.). Als Martius,<br />

am Rio Japurá, eine Ortschaft der noch ziemlich isolierten Miranhas besuchte, <strong>und</strong><br />

dort wegen seines schlechten Ges<strong>und</strong>heitszustands ein paar Wochen verweilte, glaubte<br />

er Zeuge aller „Erscheinungen ihres verwahrlosten Lebens“ gewesen zu sein:<br />

Die Überzeugung stellte sich vor Allem fest in mir, <strong>das</strong>s dieser Wilde<br />

von Gott, als dem gütigen Vater <strong>und</strong> Erzeuger aller Dinge, keine Vorstellung<br />

hat. [...] Die Seele dieses gefallenen Urmenschen ist nicht unsterblich<br />

[...] <strong>und</strong> nur Hunger <strong>und</strong> Durst mahnen an die Existenz. Eben<br />

deshalb wird <strong>das</strong> Leben nicht als hohe Gabe geachtet, <strong>und</strong> der Tod ist<br />

gleichgültig. (Ebd., S. 1268)<br />

Anhand christlich-moralischer Werte werden die Miranhas, von denen Martius<br />

ein kleines Mädchen als ‚lebendes Kabinettobjekt‘ bis nach München mitnimmt 15 ,<br />

der untersten Stufe der menschlichen Entwicklung, fast den Tieren, zugeordnet:<br />

Das Band der Liebe, schlaff. Statt Zärtlichkeit Brunst, statt Neigung<br />

Bedürfniss; die Mysterien des Geschlechts entweiht <strong>und</strong> offen, der Mann<br />

aus Bequemlichkeit halb bekleidet, <strong>das</strong> nackte Weib Sclavin; statt der<br />

Scham Eitelkeit; die Ehe ein nach Laune wechselndes Concubinat; des<br />

Hausvaters Sorge sein Magen [...]; sein Zeitvertreib Völlerei <strong>und</strong> dumpfes<br />

Nichtsthun; der Weiber Schaffen blind <strong>und</strong> ohne Ziel; ihre Freuden<br />

schnöde Lust; die Kinder der Eltern Bürde, darum vermieden; väterliche<br />

Neigung aus Berechnung, mütterliche aus Instinct; Familienväter ohne<br />

Sorgen [...]; Erziehung äffische Spielerei der Mutter [...] . (Ebd., S. 1268)<br />

Der telegraphische Stil der Beschreibung endet mit kategorischen Worten:<br />

So ist <strong>und</strong> lebt der Urmensch dieser Wildniss! Auf der rohesten Stufe<br />

der Menschheit, ist er ein beklagenswerthes Rätsel sich selbst <strong>und</strong> dem<br />

Bruder aus Osten, an dessen Brust er nicht erwarmet, in dessen Arm<br />

er, von höherer Humanität wie von einem bösen Hauche getroffen,<br />

hinschwindet <strong>und</strong> stirbt. (Ebd., S. 1268)<br />

Um dieses „Rätsel“ zu erklären, <strong>das</strong> schließlich den Wert <strong>und</strong> Erfolg der zivilisatorischen<br />

Aufgabe der Europäer in Frage stellt, wird der Gr<strong>und</strong> des Untergangs<br />

15. Das Miranha-Mädchen wie auch ein Junge aus dem Stamm der Puri waren die einzigen der<br />

sechs Indios, die zusammen mit den Forschern die Überfahrt überlebten <strong>und</strong> Europa erreichten.<br />

Der Junge starb in München nach sechs Monaten, <strong>das</strong> Mädchen nach einem Jahr. Sie<br />

konnten kaum Portugiesisch <strong>und</strong> sprachen auch unter sich keine gemeinsame Sprache. In<br />

München wusste niemand genau, was mit ihnen geschehen sollte. Sie waren „Gegenstand<br />

der Sensationslust, der Neugierde, des Unverständnisses <strong>und</strong> der Ratlosigkeit“ (HELBIG<br />

1994, S.182). Im Reiseatlas sind ihre Portraits abgebildet.<br />

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