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Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

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Schwache Akteure<br />

Die Suche nach schnellen politischen Erfolgen konzentrierte sich sowohl in den USA – nach dem Scheitern der Ges<strong>und</strong>heitsreform im<br />

Jahre 1993 – als auch in Deutschland nicht auf die ausgabenrelevanten Bereiche der sozialen Sicherung, d.h. die Absicherung im Krankheitsfalle<br />

oder im Alter, sondern auf die Kernbereiche der Armutspolitik. Die Gründe <strong>für</strong> eine derartige Strategiewahl sind relativ<br />

schlicht: Eine restriktive staatliche Armutspolitik verspricht – angesichts der skizzierten wirtschaftsliberalen Gr<strong>und</strong>überzeugung – eine<br />

breite <strong>öffentliche</strong> Unterstützung in einem Politikfeld mit relativ schwachen politischen Akteuren (vgl. Gebhardt 1998 <strong>und</strong> Seeleib-<br />

Kaiser 1993). Jenseits des „politischen Tagesgeschäfts“ stellt sich aber die fachpolitische Frage, ob die Strategien zur Integration von<br />

Sozialhilfeempfängern in den Erwerbsarbeitsmarkt nachhaltig zur Lösung von Armutsproblemen, zur Verbesserung der nationalen<br />

Wirtschaftsbedingungen <strong>und</strong> nicht zuletzt auch zu deren sozialer Integration beigetragen haben.<br />

Deutschland: Kontinuität mit Einschnitten<br />

In der Sozialhilfe – als wichtigstem Teil der Hilfen im deutschen sozialen Sicherungssystem – stellt sich die fachpolitische Situation<br />

gr<strong>und</strong>legend anders dar als bei den Sozialversicherungen. Gemessen am finanziellen Volumen der Sozialversicherungen ist die<br />

Sozialhilfe relativ randständig. Gleichwohl ist auch in Deutschland die Sozialhilfe in den 1990er-Jahren zum Gegenstand politischer<br />

Kontroversen geworden. Da die Sozialhilfe größtenteils aus dem Steueraufkommen der Kommunen finanziert wird, sind die<br />

Gebietskörperschaften angesichts einer sich verschlechternden <strong>öffentliche</strong>n Haushaltslage besonders daran interessiert, in diesem <strong>für</strong><br />

sie relevanten Haushaltsposten dauerhafte Einsparungen zu erzielen. Diese kommunalen Bestrebungen finden in Teilen der<br />

Öffentlichkeit eine deutliche Resonanz. Seitdem wird weniger über die Rechte von Sozialhilfeempfängern als über deren Pflichten,<br />

insbesondere zur Arbeit, diskutiert. Im Unterschied zu den USA stellt die Sozialhilfe in Deutschland aber einen integralen Bestandteil<br />

des sozialen Sicherungssystems dar, auf die alle nachweislich bedürftigen Bürger einen Rechtsanspruch haben <strong>und</strong> die Leistungen im<br />

Bedürftigkeitsfalle ohne zeitliche Befristung zur Verfügung stellt.<br />

Globale Fragen <strong>und</strong> nationale Antworten: Zukunft der Armutspolitik<br />

Betrachtet man die Welfare Reform in den USA <strong>und</strong> auch die Änderungen in der deutschen Sozialhilfegesetzgebung, so lassen sich<br />

bemerkenswerte Ähnlichkeiten in den Entwicklungen feststellen. Im Mittelpunkt der politischen Diskussion über die Sozialhilfe stehen<br />

nicht die Rechte von Leistungsnehmern, sondern vielmehr deren Pflichten zur Gegenleistung bei der Inanspruchnahme von steuerfinanzierten<br />

Sozialleistungen.<br />

In beiden Gesellschaften ist die Sozialhilfepolitik als steuerfinanzierter Zweig des sozialen Sicherungssystems in den 1990er-Jahren<br />

Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden (vgl. Gebhardt/Jacobs/Leibfried 1999). In Deutschland hat die sozialpolitische<br />

Debatte zu einer partiell restriktiven Sozialhilfepraxis geführt: Wer als SozialhilfeempfängerIn erwerbsfähig ist <strong>und</strong> die Übernahme<br />

einer Erwerbsarbeit ablehnt, kann unter bestimmten, rechtlich geregelten Bedingungen vom Sozialhilfebezug ausgeschlossen werden.<br />

Bei der Betrachtung der Sozialhilfesituation in den USA hingegen ist zu bedenken, dass derartige Leistungen bereits in der Vergangenheit<br />

auf die Gruppe der allein erziehenden Mütter <strong>und</strong> ihre Kinder begrenzt waren. Dieses auf eine spezielle Zielgruppe<br />

ausgerichtete Sozialprogramm hat mit der Welfare Reform, d.h. mit der zeitlichen Befristung des Leistungsbezugs, der Verpflichtung<br />

zur sukzessiven Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt <strong>und</strong> der Bereitstellung flankierender Dienste zur Kinderbetreuung, eine<br />

arbeitsmarkt- <strong>und</strong> gesellschaftspolitische Radikalisierung erfahren. Dabei ist aber zu bedenken, dass die US-amerikanische – im Unterschied<br />

zur deutschen – Sozialpolitik mit befristeten Programmen arbeitet, die auch relativ schnell wieder verändert werden können.<br />

Festzuhalten bleibt, dass es sich bei der Welfare Reform in den USA letztlich um eine erwerbspolitische Reformulierung von Sozialhilfeleistungen<br />

<strong>für</strong> allein erziehende Mütter <strong>und</strong> ihre Kinder handelt. Unter den Bedingungen wirtschaftlicher Prosperität <strong>und</strong> eines quasi<br />

leer geräumten Arbeitsmarktes in der US-amerikanischen Erwerbsgesellschaft ist es durchaus konsequent, erwerbsarbeitsmarktferne<br />

Gruppen – wie allein erziehende Mütter – in den Erwerbsarbeitsmarkt integrieren zu wollen (vgl. Willke 2002), wenngleich der<br />

bisweilen „erbarmungslose“ Verpflichtungscharakter ein Rückgriff in vordemokratische <strong>Fürsorge</strong>traditionen zu sein scheint. Ist man<br />

bereit dieser Vorstellung zu folgen, so bietet die höchst unterschiedliche Ausgestaltung dieses Programms in den einzelnen B<strong>und</strong>esstaaten<br />

dennoch vielfach Anlass zur Kritik: Seien es etwa Art <strong>und</strong> Umfang der angebotenen Arbeiten <strong>und</strong> Sozialhilfezahlungen, die<br />

Qualität der Aus- <strong>und</strong> Weiterbildungsmaßnahmen <strong>und</strong> die fachlichen Standards in der Kinderbetreuung.<br />

Angesichts der prekären wirtschaftlichen <strong>und</strong> arbeitsmarktpolitischen Situation in Deutschland wirkt die Diskussion über die Welfare<br />

Reform als Best-Practice-Beispiel <strong>für</strong> deutsche Sozialreformen geradezu deplaziert – denn welcher Teilarbeitsmarkt sucht hier händeringend<br />

nach Sozialhilfeempfängerinnen? Gleichwohl hat gerade die christdemokratische Rezeption der US-amerikanischen Debatte<br />

auch etwas Selbstaufklärerisches: Die Vorstellung, dass der Mütterstatus nur fern der Erwerbsarbeit <strong>und</strong> in Aufopferung <strong>für</strong> die Familie<br />

zu definieren sei, wird stillschweigend ad acta gelegt. Und die globale Erkenntnis, dass Erwerbsarbeit <strong>für</strong> die Identitätsbildung <strong>und</strong> die<br />

soziale Integration unabdingbar sei, verweist in Deutschland in unangenehmer Weise auf das Scheitern von Wirtschafts – <strong>und</strong> Arbeitsmarktpolitik.<br />

Die Diskussion über die Pflicht von SozialhilfeempfängerInnen zur Erwerbsarbeit - unter Verweis auf die US-amerikanische<br />

Debatte – ist angesichts der prekären arbeitsmarktpolitischen Situation in Deutschland allenfalls eine politische Ersatzhandlung<br />

<strong>für</strong> ausstehende Sozialreformen in Kernbereichen des sozialen Sicherungssystems wie der Renten – <strong>und</strong> der Krankenversicherung.<br />

Und im Hinblick auf diese in Deutschland noch ausstehenden Sozialreformen stellt sich die politische <strong>und</strong> wissenschaftliche Gr<strong>und</strong>satzfrage,<br />

ob Sozialpolitik <strong>und</strong> die entsprechenden Ausgaben wirtschaftliche Entwicklungen behindern oder ob ein zeitgemäßes soziales Sicherungssystem<br />

nicht vielmehr wirtschaftliche Entwicklungen begünstigt? Soziale Sicherung, inklusive sozialer Hilfen, eröffnet Gesellschaften<br />

die notwendige institutionelle Flexibilität, um sich am Weltmarkt erfolgreich behaupten zu können – lautet die vorläufige Antwort Elmar<br />

Rieger <strong>und</strong> Stephan Leibfried (1999), –, eine begründete Annahme, an deren Realitätstest wir im Selbstversuch teilnehmen dürfen.<br />

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