Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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Dieses Ergebnis überrascht angesichts der Klagen der Beschäftigten über die Schwierigkeiten der <strong>Verein</strong>barkeit von Erwerbsarbeit <strong>und</strong><br />
familiären Verpflichtungen. Insbesondere die Beschäftigten mit betreuungsbedürftigen Kindern waren in einer „Zeitfalle“ – so der<br />
Terminus, den Arlie Hochschild verwendet, um das Dilemma der unterschiedlichen Zeitanforderungen <strong>und</strong> die schwindende Zeit <strong>für</strong><br />
die Familie zu beschreiben. Aufgr<strong>und</strong> der ausgeprägten Erwerbsarbeitszeiten blieb keine Zeit mehr <strong>für</strong> das Familienleben.<br />
Wie gingen die Beschäftigten mit diesem Dilemma um, <strong>und</strong> welche Auswirkungen hatte diese Zeitknappheit <strong>für</strong> das Familienleben?<br />
Bei den hochqualifizierten Beschäftigten ließen sich zwei Strategien beobachten, um das Familienleben einigermaßen zu organisieren.<br />
Dies war einmal der Versuch einer Rationalisierung des Familienlebens, indem die verbliebenen Zeiten stark durchorganisiert <strong>und</strong> nach<br />
Effektivitätsgesichtspunkten gestaltet wurden. Die zweite Strategie der qualifizierten Beschäftigten bestand in einem ausgeprägten<br />
Rückgriff auf <strong>öffentliche</strong> <strong>und</strong> vor allem privatwirtschaftlich erbrachte Dienstleistungen. Dies reichte von einer umfassenden Kinderbetreuung<br />
in entsprechenden Einrichtungen bis hin zur Organisation von Kindergeburtstagen durch kommerzielle Anbieter.<br />
Für die Beschäftigten aus dem Produktionsbereich war der Rückgriff auf kommerzielle Angebote aufgr<strong>und</strong> ihrer niedrigeren<br />
Einkommen eingeschränkt. Bei ihnen spielten familiäre <strong>und</strong> nachbarschaftliche Netzwerke zur Unterstützung bei der Kinderbetreuung<br />
eine wesentlich größere Rolle.<br />
Fragt man nach den Hintergründen <strong>für</strong> diese Ausweitung der Erwerbsarbeitszeiten <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene „Zeitfalle“ der Beschäftigten,<br />
so wird ein Bündel verschiedener Gründe sichtbar. Bei den Führungskräften <strong>und</strong> hoch qualifizierten Fachkräften war eine Unternehmenskultur<br />
wirksam, in der eine umfassende Verfügbarkeit des bzw. der einzelnen Beschäftigten <strong>für</strong> das Unternehmen unbedingt<br />
vorausgesetzt wurde. Überst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Mehrarbeit waren Voraussetzung <strong>für</strong> eine Karriere innerhalb des Unternehmens. Für viele der<br />
Beschäftigten im Produktionsbereich waren die Doppelschichten zur Verbesserung ihres Einkommens notwendig.<br />
Bei einer genaueren Analyse kommt aber noch ein Erklärungshintergr<strong>und</strong> hinzu, der bereits im Titel der Studie angekündigt wird:<br />
„Wenn die Firma zum Zuhause wird <strong>und</strong> zu Hause nur Arbeit wartet“. Hier kündigt sich eine gr<strong>und</strong>legende Umwertung der Bereiche<br />
von Erwerbsarbeit <strong>und</strong> Familie an. Für die hoch qualifizierten Beschäftigten ebenso wie <strong>für</strong> die Beschäftigten im Produktionsbereich<br />
gilt gleichermaßen, dass die Erwerbsarbeit eine starke Aufwertung erfahren hat. Über die einkommenssichernde Funktion hinaus hat<br />
die Erwerbsarbeit Funktionen übernommen, die zuvor der Familie zukamen. Die Erwerbsarbeit ist zum zentralen Ort geworden, in dem<br />
die Beschäftigten Anerkennung <strong>und</strong> auch emotionale Unterstützung finden. Die langen Arbeitszeiten sowie die Arbeitsorganisation in<br />
kleinen Teams mit Entscheidungsbefugnissen unterstützen eine Tendenz, nach der der Zusammenhalt am Arbeitsplatz befördert wird<br />
<strong>und</strong> Kollegen auch zu Fre<strong>und</strong>en werden. Für die hoch qualifizierten Arbeitskräfte kommt hinzu, dass das Unternehmen verschiedene<br />
Angebote installiert hat, die die Beschäftigten an das Unternehmen binden sollen. Dazu gehört die Bereitstellung verschiedenster<br />
Dienstleistungen, die von Fertigmahlzeiten zum Nachhausenehmen bis zur Selbsthilfegruppe <strong>für</strong> allein erziehende Eltern <strong>und</strong> zur<br />
psychologischen Beratungsstelle reichen. Bereiche, die früher der Familie vorbehalten waren, werden nun vom Unternehmen abgedeckt.<br />
Hinzu kommt eine entfaltete Anerkennungskultur <strong>für</strong> berufliche Leistungen, die von Belobigungen bis hin zu Karrieresprüngen<br />
reichen. Beides hat zur Folge, dass sich die Attraktivität <strong>und</strong> die Bindung an die Erwerbsarbeit <strong>und</strong> an das Unternehmen erhöhen.<br />
Demgegenüber erscheint <strong>für</strong> viele Beschäftigte das Familienleben <strong>und</strong> dessen Organisation nach einem langen Arbeitstag als Belastung<br />
<strong>und</strong> mühevolle Arbeit. Während die Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz Anerkennung erfahren, vermissen sie dies in ihrem Familienleben.<br />
Während sie am Arbeitsplatz auf die Unterstützung ihrer Kollegen sowie diverser Beratungs- <strong>und</strong> Fortbildungsangebote zurückgreifen<br />
können, sind sie mit den Anforderungen zur Organisation des Familienlebens <strong>und</strong> den Aufgaben der Erziehung in der Regel<br />
allein gelassen. Hinzu kommt, dass die anspruchsvolle Aufgabe des Aufbaus <strong>und</strong> der Pflege von Familienbeziehungen aufgr<strong>und</strong> der<br />
schwindenden Familienzeiten noch komplizierter geworden ist. Dies geht einher mit einer insgesamt geschw<strong>und</strong>enen gesellschaftlichen<br />
Anerkennung von Haus- <strong>und</strong> Familientätigkeiten. Während die Erwerbsarbeit eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren hat, was sich<br />
auch in der gestiegenen Frauenerwerbstätigkeit ausdrückt, verlieren Haus- <strong>und</strong> Erziehungsarbeiten in der Familie weiter an Attraktivität.<br />
In dieser von Arlie Hochschild beschriebenen Entwicklung kommt eine „kulturelle Umpolung von Arbeitsplatz <strong>und</strong> Zuhause“ zum Ausdruck<br />
(ebd.: 217). Der Arbeitsplatz übernimmt Funktionen, die bislang der Familie vorbehalten waren. Die Familie wird dagegen zur<br />
„zweiten Schicht“, die durch die Anforderung bestimmt wird, möglichst effizient mit der verbliebenen Zeit umzugehen. Verlierer dieser<br />
kulturellen Veränderungen sind vor allem die Kinder <strong>und</strong> die Beziehungen <strong>und</strong> Ehen der Eltern. Die elterlichen Zeitarrangements <strong>und</strong><br />
ihre nach Effizienzgesichtspunkten strukturierte Zeitorganisation kollidiert insbesondere mit den Zeitbedürfnissen der Kinder.<br />
Die Ergebnisse der Untersuchung von Arlie Russell Hochschild sind nicht einfach auf Deutschland übertragbar. Da<strong>für</strong> sind die Unterschiede<br />
im Erwerbsarbeitssystem bezüglich der wöchentlichen Arbeitszeiten, der Urlaubsregelungen oder auch der in den USA sehr<br />
viel stärker ausgeprägten Frauenerwerbstätigkeit zu groß. Wichtig <strong>für</strong> die deutsche Diskussion ist aber eine durch die Studie angeregte<br />
Sensibilisierung <strong>für</strong> die Zusammenhänge zwischen Erwerbsarbeit, Familie <strong>und</strong> Engagement <strong>und</strong> <strong>für</strong> den kulturellen Wandel, der sich<br />
offensichtlich im Verhältnis der Bereiche zueinander abzeichnet. Wenn Hochschild von der These ausgeht, „dass beide Welten, das<br />
Zuhause wie die Arbeit, im Laufe der letzten 30 Jahre einen erheblichen Wandel durchgemacht haben, während die Art <strong>und</strong> Weise, wie<br />
wir über sie denken, unverändert geblieben ist“ (ebd., S. XXIX), dann trifft dies auch durchaus die Situation in Deutschland. Die „alte“,<br />
von der Frauenbewegung angestoßene Debatte um die <strong>Verein</strong>barkeit von Erwerbsarbeit <strong>und</strong> Familie ist nach wie aktuell <strong>und</strong> müsste<br />
heute um den dritten Bereich, das bürgerschaftliche Engagement, erweitert werden. Auch die in Deutschland <strong>für</strong> bestimmte<br />
Berufsgruppen beobachtbare Entgrenzung <strong>und</strong> Ausweitung der Arbeitszeiten vor allem in zukunftsträchtigen Branchen wie den<br />
Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien deuten auf Parallelitäten zu den in der Studie beschriebenen kulturellen Veränderungen<br />
im Verhältnis von Erwerbsarbeit <strong>und</strong> Familie hin.<br />
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