Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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Ungeplante Nebenfolgen – Anmerkungen zu Risiken im Gewand von Arbeitsaufgaben<br />
Trotz aller Chancen, die in einem Umsteuerungsprozess <strong>für</strong> ganze Regionen in Richtung integrativer <strong>und</strong> im Lebensfeld der Menschen<br />
angesiedelter Unterstützungsleistungen liegen, darf man die Risiken <strong>und</strong> vor allem die ungeplanten Nebenfolgen nicht aus den Augen<br />
verlieren. Diese seien an dieser Stelle nur angedeutet:<br />
I.<br />
Vor allem die Rezeption der Debatte um die Sozialraumorientierung der Erziehungshilfen geschieht enorm verkürzt. Mechthild<br />
Wolff (2002) sprach kürzlich davon, dass „mit dem Begriff der Sozialraumorientierung eine neue Diskussion eingeführt wurde (...), bevor<br />
die flexiblen Konzepte auf ihre Bedeutung <strong>für</strong> die Praxis <strong>und</strong> die Jugendhilfetheorie abgeklopft waren“ (ebenda, S. 41). Die Autorin<br />
bemängelt richtigerweise, dass die Sozialraumdebatte heute häufig nur noch um Finanzierungs- <strong>und</strong> Planungsfragen kreist. Stattdessen<br />
plädiert sie da<strong>für</strong>, die Lebensstile <strong>und</strong> (sozialräumlichen) Milieus im Sinne „fördernder Umwelten“ (ebenda, S. 50) zu begreifen <strong>und</strong><br />
die subjektive Ebene des sozialen (Nah-)Raumes mehr in den Vordergr<strong>und</strong> zu stellen.<br />
In den Diskursen hat man den Eindruck, als hätte das Thema „Sozialraumorientierung“ <strong>und</strong> genauer gesagt die Reduzierung des<br />
facettenreichen Ansatzes auf sozialraumbezogene Finanzierungsformen – (zudem nochmals verengt auf ein Modell des Sozialraumbudgets<br />
<strong>für</strong> einen Träger der Hilfen zur Erziehung in einem Sozialraum) – die <strong>öffentliche</strong> Aufmerksamkeit von den anderen hier<br />
genannten Bestandteilen des Reformprogramms gänzlich abgezogen. Die Diskussionen um die Verwaltungsreform – auch das entsprechende<br />
KGST-Gutachten zum sozialräumlichen Kontraktmanagement – haben in der Folge die Diskussion um die Nahraumorientierung<br />
<strong>und</strong> den sozialräumlichen Lebensfeldbezug auch der erzieherischen Hilfen sicher <strong>öffentliche</strong>r gemacht, aber eben auch enorm<br />
verkürzt: Da geht es oft nicht mehr um Vorstellungen darüber, wie soziale Arbeit einen Beitrag <strong>für</strong> gerechte <strong>und</strong> solidarische Gemeinschaften<br />
im Kleinen schaffen kann; da ist nicht mehr die Rede davon, Umgebungen, Lebenswelten, soziale Räume so zu gestalten, dass<br />
Bildungsmöglichkeiten erwachsen. Zu wenig hört man davon, dass Einzelfallhilfe <strong>und</strong> Gemeinwesenarbeit gemeinsam das Ziel haben<br />
müssen, Hilfeprozesse so anzulegen, dass die lokale Gemeinschaft <strong>und</strong> das soziale Gemeinwesen davon profitiert, wenn Einzelnen <strong>und</strong><br />
Familien Veränderung, Anders-Leben <strong>und</strong> (Über-)Leben ermöglicht wird. Vielmehr neigt sich schnell die Diskussion auf Aspekte wie<br />
Festsetzung fiskalischer Summen, die nun <strong>für</strong> Menschen in einem bestimmten Raum zur Verfügung stehen <strong>und</strong> von zuständigen lokalen<br />
Trägern „bewirtschaftet werden“, wie mehr Steuerungsgewalt <strong>für</strong> die Kommune entsteht. Nicht die Frage, was können regionalisierte<br />
<strong>und</strong> sozialräumlich angelegte Angebote <strong>für</strong> die Entwicklung eines Gemeinwesens beitragen, bestimmt die Diskussion, sondern stadtteilbezogene<br />
bzw. präventive Arbeit kann dann schnell nur unter dem Aspekt der Kompensation der Defizite der Einzelfallhilfe gesehen<br />
werden.<br />
Einzelfall bezogene Hilfen, die auch ins Gemeinwesen wirken wollen, müssen sich zwar mittelfristig auch unter Kostengesichtspunkten<br />
ausweisen, werden aber allein Kostengesichtspunkte programmsteuernd angewandt, verschwindet der Innovationsgehalt des<br />
Fachkonzeptes <strong>für</strong> die Bürger <strong>und</strong> Fachkräfte unter der regionalisierten Kostendeckelung <strong>und</strong> zurück bleibt nur der Versuch der<br />
Ökonomisierung der sozialen Arbeit auf Kosten der Hilfe Suchenden. Der <strong>Verein</strong>barung von Qualitätsstandards unter Einbeziehung der<br />
Hilfe-AdressatInnen <strong>für</strong> integrierte <strong>und</strong> sozialräumliche Hilfen kommt allein schon deshalb eine wichtige Bedeutung zu (siehe oben).<br />
II.<br />
Weiterhin birgt die enge regionale, kleinräumige Abstimmung der Leistungen in Fall- <strong>und</strong> Stadtteilteams sowie Stadtteilr<strong>und</strong>en auch<br />
Gefahren der sozialen Kontrolle durch Fachkräfte der sozialen Arbeit. Lebensräume können zu Interventionsgeländen werden,<br />
Lebenszusammenhänge können zur <strong>für</strong>sorglichen Anwendungsfolie <strong>für</strong> „Ressourcenkarteien“ geraten. Solche Beobachtungen sprechen<br />
<strong>für</strong> den Ausbau von unabhängigen Beschwerdestellen, wie sie Hans Thiersch (2001, S. 230 f.) vorgeschlagen hat. Die fachliche<br />
Auseinandersetzung mit Form des Beschwerdemanagements wird wichtiger <strong>für</strong> die Jugendämter.<br />
Zum anderen steht der Präventions- <strong>und</strong> Prophylaxebegriff in der Gefahr, ganze Lebensräume von Menschen zum Areal potenzieller<br />
Fälle <strong>und</strong> abweichender Karrieren zu erklären, denen dann bei der Erreichung von angeblich noch auszumachenden Normalstandards<br />
geholfen werden soll. Die Gemeinwesenarbeit <strong>und</strong> die aufsuchende Jugendarbeit haben gelernt, dass bei aller Angewiesenheit der<br />
Menschen auf den Alltag im Milieu – auch wenn dieser widersprüchlich <strong>und</strong> unglücklich ist – es auch ein Recht auf Räume, Lebenszusammenhänge<br />
gibt, in denen nicht durch die soziale Arbeit eingegriffen wird, die nicht gleich als Ressourcen verplant werden. Hier<br />
kann es nicht darum gehen, wie in Modellen des „aktivierenden Sozialstaates“ (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2002) angedeutet, Hilfe Suchende<br />
mittels verhaltenstherapeutischer Kurzzeitprogramme <strong>und</strong> Intensivtrainings – wie es zum Teil auch im europäischen Ausland<br />
unter dem Stichwort individueller, flexibler Hilfe versucht wird – als Alleinverantwortliche <strong>für</strong> strukturelle Benachteiligungen zu erklären.<br />
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