Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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Thesen zum Reformbedarf in der Pflegeversicherung<br />
MR Roland Borosch, Ministerium <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit, Soziales, Frauen <strong>und</strong> Familie des Landes Nordrhein-Westfalen<br />
I. Zu gr<strong>und</strong>sätzlichen Fragen der Weiterentwicklung der pflegerischen Absicherung<br />
1. Die derzeitige Diskussion über die finanzielle Absicherung der Pflegeversicherung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich auf die<br />
Faktoren Beitragsatzstabilität <strong>und</strong> Senkung der Lohnnebenkosten konzentriert. Dies versperrt den Blick auf Fragen zur Verbesserung<br />
der Einnahmenseite.<br />
2. Zukunftsorientierte Lösungen zur Verbesserung der Einnahmenseite dürfen sich nicht nur auf den Faktor Arbeit konzentrieren,<br />
sondern müssen bei denjenigen, die die Pflegeversicherung zu finanzieren haben, stärker die gesamte Einkommensseite berücksichtigen.<br />
Das bedeutet konkret, dass auch andere Einkünfte zur Finanzierung der Versicherungsbeiträge mitberücksichtigt<br />
werden sollten.<br />
3. Der Finanzausgleich zwischen B<strong>und</strong>, Ländern <strong>und</strong> Gemeinden muss so gestaltet sein, dass die Kommunen auch tatsächlich handlungsfähig<br />
bleiben bzw. werden. Gr<strong>und</strong>sätzlich ist die kommunale Finanzausstattung zu klären.<br />
4. Darüber hinaus ist im Steuerrecht zu klären, dass Unternehmen, die in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt als Arbeitgeber<br />
quasi eine Monopolstellung haben, vor Ort auch Steuern zahlen <strong>und</strong> sich nicht aus der Verantwortung <strong>für</strong> ein funktionierendes<br />
Gemeinwesen verabschieden (Beispiele Sindelfingen <strong>und</strong> Leverkusen).<br />
5. Das bürgerschaftliche Engagement muss gestärkt werden. Insbesondere in Ballungsregionen können durch ehrenamtliche Kräfte<br />
wichtige Aufgaben in der niedrigschwelligen Betreuung hilfebedürftiger Menschen wahrgenommen werden. Dieses Engagement gilt<br />
es anzuregen, zu unterstützen <strong>und</strong> zu begleiten, ohne die Grenzen der Belastbarkeit <strong>und</strong> der Zumutbarkeit zu übertreten.<br />
6. Kleine soziale Netzwerke müssen unterstützt werden. Durch das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz ist im Bereich der Betreuung<br />
demenzerkrankter Menschen ein Einstieg gelungen. Es muss jedoch konstatiert werden, dass die kommunale Seite den Aufbau einer<br />
entsprechenden Netzwerkstruktur nicht in ausreichendem Maße begleitend unterstützt.<br />
7. Es muss auch darüber nachgedacht werden, wie kostenintensive stationäre Unterbringung vermieden werden kann. Bei den Hilfen,<br />
die pflegebedürftige Menschen in ihrer eigenen Häuslichkeit brauchen, steht häufig nicht nur die unmittelbar pflegerische Unterstützung<br />
im Vordergr<strong>und</strong>, sondern ebenso Hilfen im hauswirtschaftlichen Bereich, kommunikative Angebote, Beratung, Wohnungs<strong>und</strong><br />
Wohnraumanpassung <strong>und</strong> weitere niedrigschwellige Hilfeangebote wie Fahrdienste, Mahlzeitendienste etc. Diese vorpflegerischen<br />
oder pflegeergänzenden Dienste werden häufig nicht durch die Pflegeversicherung abgedeckt. Dies sind originäre Leistungen,<br />
die durch die örtlichen Sozialhilfeträger mitgetragen werden müssen. Der <strong>für</strong> die Kommunen damit verb<strong>und</strong>ene finanzielle<br />
Aufwand zur Sicherung solcher Angebote ist niedriger zu veranschlagen als die Kosten, die bei Nichtvorhandensein dieser Leistungen<br />
<strong>für</strong> vorzeitige <strong>und</strong> unnötige Heimunterbringung entstehen. Bei steigender Zahl hilfebedürftiger Menschen muss also in Zeiten,<br />
in denen die kommunalen Haushalte in besonderer Weise belastet sind, in den pflegeergänzenden Bereich investiert werden. Die<br />
Alternative hierzu ist eine Vielzahl von teureren unnötigen <strong>und</strong> vorzeitigen stationären Versorgungen. Die Bereitschaft der auf der<br />
kommunalen Ebene Verantwortlichen, sich mit der Kommunalaufsicht über diese Frage auseinander zu setzen, muss gestärkt werden,<br />
damit auch dort die Einsicht wächst, dass alle anderen pflegerischen <strong>und</strong> pflegeergänzenden Hilfen notwendig <strong>und</strong> <strong>für</strong> die Belastung<br />
der kommunalen Haushalte erträglicher sind als neue Heimplätze.<br />
8. In der Diskussion werden häufig die Möglichkeiten der Pflege auf die Alternativen ambulante Pflege <strong>und</strong> stationäre Heimpflege<br />
reduziert. Erfahrungen insbesondere im ostwestfälischen Bereich verdeutlichen aber, dass über die Zusammenarbeit mit Wohnungsbaugesellschaften<br />
auch andere Regelungen möglich sind. Insbesondere in Ballungszentren haben Wohnungsbaugesellschaften häufig<br />
mit Leerständen des Wohnungsbestandes zu kämpfen. Diese Leerstände können durch geringfügige Umbaumaßnahmen so umgestaltet<br />
werden, dass kleine <strong>und</strong> überschaubare Pflegewohnungen entstehen. Durch Unterstützung mit niedrigschwelligen Diensten<br />
<strong>und</strong> durch geschickte Finanzierungsarrangements aus eigenen Einkünften, Leistungen der Pflege- <strong>und</strong> der Krankenversicherung <strong>und</strong><br />
subsidiär der Sozialhilfe sind sie in den meisten Fällen kostengünstiger als die Pflege im Heim. Der eigentliche Vorteil dieser Pflegewohnungen<br />
besteht jedoch darin, dass die Menschen, die dort wohnen <strong>und</strong> gepflegt werden, in den angestammten Wohnquartieren<br />
bleiben können <strong>und</strong> soziale Bindungen leichter aufrechterhalten werden können. Diese Form einer bedarfsangemessenen Organisation<br />
von Pflege <strong>und</strong> Wohnen reduziert somit die pflegebedingten Belastungen insgesamt. Nicht zuletzt können dadurch auch die<br />
Belastungen der Kommunen begrenzt werden.<br />
II. Zum Reformbedarf in der Pflegeversicherung<br />
9. Das System der sozialen Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung hat sich gr<strong>und</strong>sätzlich bewährt. An diesem<br />
System soll daher festgehalten werden.<br />
10. Dennoch ist die soziale Pflegeversicherung weiterzuentwickeln, damit sie den sich verändernden Bedürfnissen der Pflegebedürftigen<br />
<strong>und</strong> den demographischen <strong>und</strong> finanzpolitischen Anforderungen gerecht wird. Die Vorschläge zur Weiterentwicklung zielen<br />
auf eine Neuausrichtung von Versorgungsstrukturen <strong>und</strong> Sozialleistungen mit den Zielen<br />
• trotz Hilfebedarf ein möglichst selbstständiges <strong>und</strong> selbstbestimmtes Leben zu führen,<br />
• Hilfen zur Selbsthilfe anzubieten <strong>und</strong> die Eigenverantwortung zu stärken sowie<br />
• den Vorrang häuslicher <strong>und</strong> ambulanter Hilfen vor stationären sowie den Vorrang von Prävention <strong>und</strong> Rehabilitation vor Pflege zu<br />
bestärken.<br />
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