Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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Fördern <strong>und</strong> Fordern: Wie viel Staat brauchen Erziehung, Bildung <strong>und</strong> Betreuung?<br />
Prof. Dr. Richard Münchmeier<br />
Meine sehr verehrten Damen <strong>und</strong> Herren,<br />
unser Thema, die Frage nach Aufgaben <strong>und</strong> Engagementnotwendigkeiten des Staates in den Bereichen von Erziehung, Bildung <strong>und</strong><br />
Betreuung, ist keineswegs neu. Sie begleitet vielmehr die Geschichte der Moderne von Anfang an.<br />
1. Ein Blick in die Tradition<br />
Sie ist radikal beantwortet worden, etwa in der Zeit der französischen Revolution, wo man die konsequente Verstaatlichung der<br />
Erziehung <strong>und</strong> Bildung, geradezu eine Erziehungsdiktatur des Staates gefordert hat, weil man glaubte, nur so das Licht der Vernunft,<br />
der Aufklärung zum Leuchten bringen zu können <strong>und</strong> den Parolen von Menschlichkeit, Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit zum Durchbruch<br />
zu verhelfen.<br />
Sie ist aber auch liberal kritisiert <strong>und</strong> abgewehrt worden. Etwa im frühen bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts deutscher<br />
Prägung. Bildung, Erziehung <strong>und</strong> Betreuung seien Privatsache, fielen in die Domäne des <strong>private</strong>n Haushalts, könnten am besten <strong>und</strong><br />
freiheitlichsten von den Bürgern selbst erfüllt <strong>und</strong> gestaltet werden. Ein Sicheinmischen des Staates beschädige nicht nur die bürgerliche<br />
Freiheit, sondern müsse zwangsläufig zur Gleichmacherei, zum Mittelmaß, zur Ineffizienz führen. Und vor allem: die Übernahme<br />
der Aufgaben in staatliche Regie führe zur Lähmung der gesellschaftlichen Kräfte, ersticke bürgergesellschaftliches Engagement <strong>und</strong><br />
Aktivität, mache mündige Bürger zum Staatsklientel, lasse den Willen zur Selbsthilfe einschlafen.<br />
Wenn ich es recht sehe, blitzen Erinnerungen an diese Streitpositionen gelegentlich auch noch in heutigen, zeitgenössischen Debatten<br />
auf. Aber freilich, es sind nur Erinnerungen, Anklänge.<br />
Denn der Gang der Geschichte ist anders verlaufen. Keine der genannten radikalen Positionen hat sich durchgesetzt ist geschichtsmächtig<br />
geworden. Wie wir alle wissen, ist der Gr<strong>und</strong>satzstreit zu Gunsten von Kompromissen aufgegeben worden.<br />
• Erziehung wurde Aufgabe der Eltern, ein Recht <strong>und</strong> eine Pflicht, die „zuvörderst ihnen obliegt“. Freilich nicht ein total privatisiertes<br />
Recht; denn „über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“ (Gr<strong>und</strong>gesetz, Artikel 6).<br />
• Versteht man unter „Bildung“ nur Lernen <strong>und</strong> Lehren, Wissensvermittlung <strong>und</strong> Qualifikationserwerb, so können wir wohl von einer<br />
weitgehenden Verstaatlichung von Bildung sprechen: Schule ist quantitativ gesehen <strong>öffentliche</strong> Schule, Verantwortungsbereich der<br />
Länder. Aber auch hier haben nun die jüngsten Leistungsvergleichuntersuchungen wieder deutlich gemacht: der Erfolg schulischen<br />
Lernens ist an außerschulische Voraussetzungen <strong>und</strong> <strong>private</strong> Unterstützung <strong>und</strong> Begleitung geb<strong>und</strong>en, vor allem durch die Familie.<br />
Wie sich gezeigt hat, ist die Schule – jedenfalls in Deutschland – bisher nicht der strahlende Ort zur Verwirklichung des Gleichheitsideals<br />
der Aufklärung geworden.<br />
• Kompliziert ist es im Feld der Wohlfahrt <strong>und</strong> Sozialen Arbeit. Hier galten bisher nach langen Kämpfen <strong>und</strong> Auseinandersetzungen<br />
etablierte Regeln. In diesen Feldern wirkten <strong>und</strong> wirken Staat (<strong>öffentliche</strong> Träger) <strong>und</strong> Gesellschaft (freie Träger) „partnerschaftlich“<br />
zusammen wie es in dem berühmten Verfassungsgerichtsurteil zu dem Streit über die Subsidiaritätsparagraphen aus den 1960er Jahren<br />
sagt. Ein weiterer Ausdruck <strong>für</strong> die komplizierte Beziehung zwischen Staat <strong>und</strong> Verbänden waren die Finanzierungsregelungen. Lange<br />
Zeit dominierte hier das Modell der sog. „institutionellen Förderung“, d.h., die <strong>öffentliche</strong> Hand kam ihrer Gewährleistungsverpflichtung<br />
oft dadurch nach, dass sie eine institutionalisierte Infrastruktur von Hilfsmöglichkeiten <strong>und</strong> Maßnahmen förderte, die<br />
Seite der Anbieter bzw. die anbietenden Verbände, Einrichtungen <strong>und</strong> Organisationen, sofern diese den Bedarf an ihren Dienstleistungen<br />
begründen <strong>und</strong> plausibel machen konnten. In der Sprache der Dienstlei-stungstheorie: gefördert wurde „latente Dienstleistungsbereitschaft“<br />
– nicht immer <strong>und</strong> in erster Linie die tatsächlich erbrachten Leistungen.<br />
Das hat sich in der jüngsten Vergangenheit – wie wir alle wissen – in einigen Bereichen schon geändert <strong>und</strong> wird sich noch weiter<br />
ändern. Das Gesetz zu den Pflegedienstleistungen nach der Pflegeversicherung ist uns hier<strong>für</strong> ein gutes Beispiel. Und die in das KJHG<br />
eingefügten Paragraphen 78 a - g weisen in die gleiche Richtung.<br />
Die Umstellung von institutioneller Förderung zu Gunsten einer klientenorientierten Förderung erbrachter Einzelleistungen zieht eine<br />
weitere einschneidende Veränderung nach sich: Sie öffnet auch gewerblichen Anbietern, kommerziell interessierten Akteuren den<br />
Zugang zu dem ursprünglich zwischen Staat <strong>und</strong> freien Trägern ausgehandelten Leistungsbereichen. Ein Wohlfahrts- <strong>und</strong><br />
Betreuungsmarkt soll entstehen. Freigemeinnützigkeit ist nicht mehr immer die Voraussetzung <strong>für</strong> den Zugang. „Mehr Markt!“ ist die<br />
Leitparole.<br />
2. Wie viel Staat brauchen wir heute?<br />
Das Bündnis von Familie, Zivilgesellschaften <strong>und</strong> Staat kam ursprünglich zustande, damit die damals sich stellenden Zukunftsaufgaben<br />
gelöst werden konnten, damit Familie, Gesellschaft, Staat Zukunft haben konnten. Unsere bisherige Betrachtung hat bereits gezeigt,<br />
dass es eine Reihe von Anlässen <strong>und</strong> Entwicklungen gibt, die Frage, wie viel Staat Bildung, Erziehung <strong>und</strong> Betreuung brauchen, neu<br />
aufzurollen. Dabei geht es aber nicht einfach nur um eine quantitative Frage, wie viel Geld muss der Staat zur Verfügung stellen? Oder<br />
<strong>für</strong> heutige Verhältnisse vielleicht besser gefragt: Wo darf der Staat auf keinen Fall kürzen?<br />
Vielmehr geht es auch um neu aufbrechende qualitative <strong>und</strong> inhaltliche Fragen: Wie, auf welche Weise muss der Staat seine Verantwortung<br />
wahrnehmen, welche Ziele soll er mit seinen Förderstrategien verfolgen <strong>und</strong> wie <strong>und</strong> wo muss er deshalb investieren? Die<br />
Antwort setzt also die Klärung der sich stellenden Aufgaben voraus. Wenn gelten kann, dass Erziehung <strong>und</strong> Bildung sich ausrichten<br />
müssen an den gesellschaftlichen <strong>und</strong> subjektiven Zukunftsaufgaben, dann lässt sich zuerst danach fragen, wie diese Zukunftsaufgaben<br />
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