Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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Erste Überlegungen zum Reformbedarf in der Pflegeversicherung aus Sicht<br />
der Freien Wohlfahrtspflege<br />
Ursula Wetzel, Referatsleiterin Altenhilfe im Deutschen Caritasverband<br />
Eine eigenständige Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit außerhalb der Sozialhilfe war 1994 <strong>und</strong> ist auch heute dringend<br />
notwendig. Die soziale Pflegeversicherung hat viele positive Wirkungen entfaltet. Insbesondere hat sie die pflegebedürftigen Menschen<br />
sowie die pflegenden Angehörigen entlastet <strong>und</strong> die häusliche Pflege gestärkt. Sie hat auch zu einem Ausbau <strong>und</strong> einer Verbesserung<br />
der pflegerischen Infrastruktur beigetragen. Ohne Pflegeversicherung würden wir heute vor erheblich größeren Probleme stehen.<br />
Trotz dieser positiven Beurteilung ist unverkennbar, dass die Pflegeversicherung reformbedürftig ist <strong>und</strong> weiterentwickelt werden muss,<br />
einerseits, um bestehende Mängel zu beheben <strong>und</strong> die Effizienz zu steigern, andererseits, um sie <strong>für</strong> die zukünftigen Herausforderungen<br />
der steigenden Zahl von pflegebedürftigen Menschen auszustatten.<br />
Die derzeitige Definition der Pflegebedürftigkeit ist ein entscheidender Kritikpunkt an der Pflegeversicherung. Der verrichtungsbezogene<br />
<strong>und</strong> auf somatische Bedürfnisse verkürzte Begriff ist unzureichend hinsichtlich der Bedarfssituation von psychisch Kranken<br />
<strong>und</strong> Demenzkranken. Notwendig ist ein Pflegebedürftigkeitsbegriff, der eine umfassende Feststellung der Fähigkeiten <strong>und</strong> der Beeinträchtigung<br />
ermöglicht <strong>und</strong> zu einer adäquaten Leistungsgewährung führt unter Berücksichtigung des Selbsthilfepotenzials <strong>und</strong> ggf.<br />
des Hilfepotenzials im familiären Umfeld.<br />
Das Ziel Rehabilitation vor Pflege greift in der jetzigen Konstruktion der Verantwortlichkeiten weitgehend ins Leere. Die rehabilitativen<br />
Potenziale der pflegebedürftigen Menschen werden nur unzureichend ausgeschöpft. Der Auftrag an den MDK, im Rahmen seiner<br />
Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit auch die Möglichkeit der Rehabilitation zu ermitteln, reicht allein nicht. Es muss auch<br />
rechtlich abgesichert werden, dass die Maßnahmen dann auch tatsächlich vom zuständigen Leistungsträger unverzüglich eingeleitet werden.<br />
Angebote der mobilen wie auch der stationären geriatrischen Rehabilitation müssen ausgebaut werden.<br />
Das jetzige System der abgegrenzten Versorgungsarten <strong>und</strong> der Differenzierung der Leistungshöhen je nach der gewählten Organisationsform<br />
der pflegerischen Versorgung ist auf den Prüfstand zu stellen.<br />
Erstens ist die Frage zu stellen, ob der im Gesetz angelegte Vorrang der häuslichen Pflege dadurch hinreichend gestützt wird <strong>und</strong> auch<br />
<strong>für</strong> die Zukunft ausreichend Anreize <strong>für</strong> Familien geboten werden, die Pflege in der Häuslichkeit zu organisieren.<br />
Zweitens ist die Frage zu stellen, inwieweit das jetzige System die Vernetzung der Versorgungsstrukturen unterstützt oder eher behindert<br />
<strong>und</strong>, ob es offen genug ist <strong>für</strong> sich verändernde <strong>und</strong> ausdifferenzierende Versorgungsstrukturen, in denen z.B. neue Angebote zwischen<br />
ambulant <strong>und</strong> stationär entstehen.<br />
Auch die Leistungsgewährung als Sachleistung ist zu überprüfen. An die Stelle der Sachleistung könnte ein personenbezogenes Budget<br />
treten, das den individuellen Bedarf abbildet. Es stärkt die Selbstbestimmung <strong>und</strong> Wahlfreiheit des Betroffenen <strong>und</strong> erleichtert die<br />
Herstellung einer der eigenen Situation angepassten Pflegeorganisation.<br />
Die Regelungsdichte <strong>für</strong> die Bedingungen der Leistungserbringung <strong>und</strong> die derzeit notwendigen zahlreichen Verhandlungen zwischen<br />
Kostenträgern <strong>und</strong> Leistungserbringern könnten dadurch reduziert werden.<br />
Bedarfsgerechtigkeit <strong>und</strong> Zielgenauigkeit der pflegerischen Leistungen sind zu verbessern. Hier<strong>für</strong> wären die Einführung von Assessment-Verfahren<br />
sowie Case-Managementstrukturen wichtige Voraussetzungen.<br />
Case-Managament könnte die Eigenverantwortung von Pflegehaushalten stärken <strong>und</strong> durch Beratung <strong>und</strong> Bedarfsfeststellung einen<br />
effektiven Einsatz des persönlichen Budgets ermöglichen.<br />
Um den Umfang einer bedarfsgerechten Leistungserbringung besser, d.h. valide <strong>und</strong> rational, messen <strong>und</strong> bewerten zu können, brauchen<br />
wir den Konsens über den Einsatz geeigneter Instrumente. Auch im Rahmen der Qualitätssicherung <strong>und</strong> der Qualitätsbeurteilung wären<br />
geeignete Instrumente hilfreich.<br />
Sicherzustellen ist, dass alle notwendigen medizinischen Leistungen <strong>für</strong> pflegebedürftige Menschen durch die Krankenversicherung<br />
finanziert <strong>und</strong> nicht in die Pflegeversicherung mit ihren gedeckelten Leistungen verschoben werden.<br />
Um den Realwert der Leistungen der Pflegeversicherung zu erhalten, sollten die Beträge <strong>für</strong> die Geld- bzw. Sachleistung angehoben<br />
<strong>und</strong> dynamisiert werden. Da diese Beträge seit Beginn der Pflegeversicherung nicht verändert worden sind, nimmt die Zahl der<br />
pflegebedürftigen Menschen wieder zu, die ergänzende Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen.<br />
Die finanzielle Basis der Pflegeversicherung ist langfristig prekär. Vorschläge, die Ausgaben zu verringern, z.B. durch Streichung der Pflegestufe<br />
1 oder die Beschränkung auf den Personenkreis der über 65-Jährigen, schaffen neue Ausgrenzungen <strong>und</strong> verlagern letztlich wenigstens<br />
einen Teil der Ausgaben auf die Sozialhilfe. Wichtiger ist es, eine Verbesserung der Einnahmen zu erreichen. Lösungen hier<strong>für</strong> stehen allerdings<br />
unter dem Druck, einerseits Lohnnebenkosten zu senken <strong>und</strong> andererseits die <strong>öffentliche</strong>n Haushalte nicht zu belasten. Bei der Diskussion um<br />
die Verbesserung der Einnahmen der Krankenversicherung sollte jedenfalls die Pflegeversicherung nicht ausgeklammert werden.<br />
Eine wichtige Aufgabe der Zukunft ist es, das informelle Hilfesystem zu erhalten <strong>und</strong> zu stärken. Diese Aufgabe ist jedoch nicht allein<br />
der Pflegeversicherung aufzubürden. Hier sind auch Maßnahmen gefordert zur besseren <strong>Verein</strong>barkeit von Beruf <strong>und</strong> Pflege. Hier sind<br />
die Kommunen gefordert in ihrer Verantwortung <strong>für</strong> pflegeergänzende Angebote, vor allem auch mit einer präventiven Ausrichtung der<br />
Altenhilfe auf kommunaler Ebene.<br />
Eine weitere wichtige Aufgabe ist es, genügend qualifiziertes Personal <strong>für</strong> die Pflege zu gewinnen. Auch hier sind viele verschiedene<br />
Akteure gefordert, nicht zuletzt die Dienste <strong>und</strong> Einrichtungen hinsichtlich ihrer Verantwortung auszubilden <strong>und</strong> Strategien zu entwickeln<br />
<strong>für</strong> Personalentwicklung sowie <strong>für</strong> Mitarbeiterzufriedenheit.<br />
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