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Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

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Generell steht der Vernetzungsperspektive entgegen, dass die diesbezüglich „geforderten“ Systeme bisher völlig getrennt entwickelt<br />

wurden <strong>und</strong> aus jeweils einseitiger Sicht angeblich auf inkompatiblen Gegensätzen beruhen, da „an der Schnittstelle zwischen Behindertenarbeit<br />

<strong>und</strong> Altenarbeit zwei Denksysteme respektive zwei Hilfeideologien aufeinandertreffen. Der Ideologie des „Förderns“ auf<br />

der einen Seite steht die Ideologie des „Versorgens“ auf der anderen Seite gegenüber.“ 23 Diese Einschätzung ist zwar objektiv falsch,<br />

nimmt sie doch die inzwischen jahrzehntelange Konzeptdiskussion der Altenhilfe <strong>und</strong> Altenpolitik <strong>und</strong> den vollzogenen Paradigmenwechsel<br />

vom Defizit- zum Kompetenzansatz ebenso wenig zur Kenntnis wie die zahlreichen einschlägigen programmatischen<br />

Aussagen der modernen Sozialgerontologie <strong>und</strong> die aus ihnen folgende innovative Praxis. Sie prägt aber dennoch das „Feindbild“ der<br />

Altenhilfe aus Sicht der Behindertenhilfe bis heute; in den letzten Jahren sind die in spezifischer Weise „verarbeiteten“ Erfahrungen mit<br />

den von der Pflegeversicherung bewirkten Umwälzungen (stärkere Personen- <strong>und</strong> Marktorientierung, Förderung informeller <strong>und</strong><br />

preisgünstiger Hilfen, nicht bedarfsdeckendes Zuschussprinzip) hinzugekommen, die als Veränderungen interpretiert werden, die es der<br />

Behindertenhilfe unbedingt zu ersparen gilt. Im Extremfalle kommt es zu einer regelrechten „Verteufelung“ der Pflege – sie „erniedrige<br />

die Menschen zu Objekten, erst die pädagogische Betreuung achte den behinderten Menschen als Subjekt“ – <strong>und</strong> zu einer „Mischung<br />

sozialpolitisch aufgebrachter Rhetorik der Betroffenenvertretung, gepaart mit einer berufspolitischen Abgrenzung der Pädagogik gegenüber<br />

der Pflege“. 24 Die gleiche Haltung führt dann zu Pauschalaussagen wie der, Altenheime böten „keine geeignete Alternative, da<br />

unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse dieses Personenkreises (= alternde Menschen<br />

mit geistiger Behinderung, P. G.) nicht gewährleistet ist“ 25 , oder „kommunale Altenheime sind nicht geeignet, diese Aufgaben<br />

wahrzunehmen.“ 26<br />

Spiegelbildlich hierzu sind Selbsteinschätzungen <strong>und</strong> Abwertungen zu sehen, wonach „die Einrichtungen der Behindertenhilfe sich<br />

durchaus in der Lage sehen (...), auch Behinderte im Alter zu pflegen, dass aber umgekehrt Altenpflegeheime (...) nicht in der Lage sind,<br />

pflegebedürftige Behinderte zu pflegen. Das Know-how der behinderungsbedingten Aspekte kann nicht eingebracht werden, während<br />

das umgekehrt bei den Pflegeaspekten in den Behinderteneinrichtungen der Fall sein kann!“ 27<br />

Gleichzeitig wird in der aus Sicht der Behindertenhilfe geführten Diskussion betont, das Normalisierungsprinzip müsse bei der<br />

Schaffung von Wohn- <strong>und</strong> Lebensformen <strong>für</strong> alte Menschen mit geistiger Behinderung Maßstab sein, 28 was die Nutzung geeigneter<br />

Altenhilfeangebote ja wohl einschließt. Zu überwinden ist offenbar die in den Köpfen der Systemakteure insbesondere der Behindertenhilfe<br />

(Altenhilfe <strong>und</strong> Pflege erscheinen entgegen manch fachlicher Expertise 29 da offener <strong>für</strong> neue grenzüberschreitende Entwicklungen<br />

<strong>und</strong> Zielgruppen) vorhandene Fiktion des notwendigen Anders-Sein-Müssens <strong>und</strong> Sich-Abgrenzen-Müssens vor den Gefahren,<br />

die von einer Öffnung angeblich ausgehen. Dabei geht es nicht darum, die Gr<strong>und</strong>überzeugungen <strong>und</strong> handlungsleitenden Ziele<br />

wie Versorgungsansätze zu „überwinden“, sondern angebracht erscheint eine gemeinsame Ziel- <strong>und</strong> Konzeptdiskussion, die geeignet<br />

ist, bisher getrennte Theorie- <strong>und</strong> Praxisprozesse sinnvoll zu integrieren. Dies geht allerdings weit über den bisher allenfalls eingeräumten<br />

„Gedankenaustausch – auch mit der Altenhilfe“ 30 hinaus, <strong>und</strong> setzt die Einsicht in die „Sinnwidrigkeit“ der Trennung von<br />

Eingliederungshilfe <strong>und</strong> Pflege voraus, so dass stattdessen Zusammenarbeit <strong>und</strong> gemeinsame Kostenträgerschaft angestrebt wird. 31<br />

5. Vernetzungsperspektiven<br />

Hilfreich bei der Überwindung der gegenseitigen Ängste von Behinderten- <strong>und</strong> Altenhilfe könnte auch die Wahrnehmung anderer<br />

nationaler Systeme sein: In den sozialpolitisch regelmäßig als vorbildlich erwähnten Niederlanden beispielsweise ist die in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

scheinbar so zwingende Systemtrennung völlig unbekannt. Die häusliche Betreuung <strong>und</strong> Pflege behinderter <strong>und</strong> alter<br />

Menschen wird ganz selbstverständlich seitens der vernetzten kommunalen Dienste <strong>für</strong> Familienpflege, Alten- <strong>und</strong> Krankenpflege<br />

sichergestellt. 32 Wohnmöglichkeiten <strong>für</strong> auf stationäre Betreuung angewiesene behinderte Menschen werden selbstverständlich auch<br />

<strong>und</strong> gerade in Pflegeheimen angeboten (die sich wiederum durch eine starke rehabilitative Orientierung auszeichnen) <strong>und</strong> von der allgemeinen<br />

Volks-Pflegeversicherung (AWBZ) finanziert. 33 Alle Leistungen zugunsten behinderter Menschen folgen einheitlichen,<br />

übergreifenden Zielen der „vollen Beteiligung an der Gesellschaft“, der „Erreichbarkeit“ von Einrichtungen (<strong>und</strong> Angeboten), der „Zugänglichkeit“<br />

der physischen Umgebung <strong>und</strong> der „Brauchbarkeit“ der angebotenen Lösungen. 34<br />

23) Gerngroß-Haas, a.a.O., S. 40.<br />

24) Darstellung <strong>und</strong> Einschätzung der Hamburger Debatte über Pflegeversicherungsleistungen <strong>für</strong> Behinderte: W. Schütte, Liebgewonnene <strong>Fürsorge</strong>?; in: standpunkt:<br />

sozial, Nr. 3 / 1998, S. 38, 47.<br />

25) B<strong>und</strong>esvereinigung Lebenshilfe e.V. (Hrsg.), Altwerden mit geistiger Behinderung, Marburg 1997, S. 6 (wiederholt inhaltsgleich auch in BuV LH e.V., Positionspapier<br />

„Alternde <strong>und</strong> alte Menschen mit geistiger Behinderung <strong>und</strong> hohem Hilfebedarf“; Marburg 2002).<br />

26) Ebd., S. 17.<br />

27) Ergebnisse der AG „Abgrenzung Eingliederungshilfe“; in: Landschaftsverband Rheinland, a.a.O., S. 85.<br />

28) B<strong>und</strong>esvereinigung Lebenshilfe 1997, a.a.O., S. 3.<br />

29) Z.B. H. P. Tews, Behindertenpolitik <strong>für</strong> ältere Menschen mit geistiger Behinderung; in: Deutsches Zentrum <strong>für</strong> Altersfragen (DZA) (Hrsg.), Versorgung <strong>und</strong> Förderung<br />

älterer Menschen mit geistiger Behinderung (Expertisen zum Dritten Altenbericht der B<strong>und</strong>esregierung, Band 5); Opladen 2001; S. 11–42.<br />

30) Wacker, a.a.O., S. 43 (ähnlich: Gerngroß-Haas, a.a.O., S. 277.<br />

31) So R. Lempp, Geistige Behinderung im Lebenslauf; in: DZA 2001, a.a.O.; S. 138.<br />

32) Vgl. Ministerium f. Ges<strong>und</strong>heit, Gemeinwohl <strong>und</strong> Sport Niederlande / Interministerieller Ausschuss <strong>für</strong> zusammenhängende <strong>und</strong> koordinierte Politik <strong>für</strong> Personen mit<br />

einer Behinderung <strong>und</strong>/oder chronischen Krankheit ISG), Behindertenpolitik in den Niederlanden, Den Haag 1998 (Reihe Fact Sheet); S. 4.<br />

33) Vgl. ebd., S. 5<br />

34) Ebd., S. 2<br />

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