Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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3. Altern mit Behinderungen<br />
Im letzten Bericht der B<strong>und</strong>esregierung über die Lage der Behinderten <strong>und</strong> die Entwicklung der Rehabilitation werden die Themenbereiche<br />
Rehabilitation „auch <strong>für</strong> ältere Menschen“ 12 <strong>und</strong> „Rehabilitation <strong>für</strong> alternde Behinderte“ 13 zwar getrennt behandelt, der Bericht<br />
weist jedoch darauf hin, dass identische Gr<strong>und</strong>bedürfnisse alter Menschen mit geistiger Behinderung <strong>und</strong> nicht-behinderter alter Menschen<br />
angenommen werden können:<br />
• „nicht isoliert zu werden,<br />
• in vertrauter Umgebung unter Beibehaltung gewachsener sozialer Beziehungen zu leben,<br />
• Hilfen bei der Tagesstrukturierung <strong>und</strong> der Gestaltung der Freizeit zu erfahren,<br />
• im Krankheits- oder Pflegefall von vertrauten Mitmenschen betreut zu werden, gegebenenfalls bis zum Sterbebeistand <strong>und</strong><br />
• eine ausreichende wirtschaftliche Gr<strong>und</strong>lage im Alter zu haben“. 14<br />
Die subjektive Artikulation der Wünsche <strong>und</strong> Bedürfnisse älterer geistig behinderter Menschen erinnert ebenfalls stark an Ergebnisse<br />
vergleichbarer sozialgerontologischer Befragungen. Genannt werden:<br />
• weitestmögliche Selbstständigkeit<br />
• sinnvolle Tätigkeiten<br />
• mitmenschliche Beziehungen<br />
• erfüllende Erlebnisse. 15<br />
Auch der Prozess des Alterns bei geistig Behinderten <strong>und</strong> Menschen ohne Behinderung kann nahezu deckungsgleich beschrieben<br />
werden: Das Altern verläuft individuell, biographisch geprägt, ist verknüpft mit veränderten sozialen Rollen <strong>und</strong> einem spezifischen<br />
gesellschaftlichen Status <strong>und</strong> ist nicht identisch mit allgemeinen Abbauprozessen. 16 „Das Alter geistig behinderter Menschen stellt keine<br />
Sonderform des Alterns dar, die besonderer Hilfe-, Dienstleistungs- <strong>und</strong> Wohnformen bedarf.“ 17 Ähnliches lässt sich <strong>für</strong> alternde<br />
seelisch behinderte Menschen formulieren, deren Bedürfnisse <strong>und</strong> Versorgungsbedarfe sich von denen gerontopsychiatrisch beeinträchtigter<br />
Älterer kaum unterscheiden, jedenfalls nicht so differieren, dass getrennte Versorgungssysteme geboten erscheinen.<br />
4. Gemeinsamkeiten <strong>und</strong> Widerstände<br />
Wenn vorstehende Thesen zutreffen, müsste es zentral um die Vernetzung18 bestehender Angebote der Behindertenhilfe <strong>und</strong> der Altenhilfe<br />
gehen. Dieses Fazit ist jedoch keineswegs selbstverständlich: z.B. die in Baden-Württemberg vom dortigen Sozialministerium moderierte<br />
Fachdiskussion akzentuiert den systemübergreifenden Vernetzungsbedarf in neueren Verlautbarungen kaum mehr; vielmehr<br />
wird systemimmanent der entsprechende Ausbau des Behindertenhilfesystems geplant. 19 Bemerkenswert ist dabei die Perspektivenverengung<br />
auf diejenigen behinderten Menschen, die bereits im vorwiegend stationär geprägten, institutionalisierten Hilfesystem leben.<br />
Für diese nur einen kleinen Teil der Zielgruppe alternder/alter behinderter Menschen ausmachenden Betroffenen wird auch von der<br />
Forschung festgestellt, dass sich „die sozialen Beziehungen ... auf die betreuenden Institutionen (konzentrieren)“ 20 , ohne dass darin etwa<br />
ein Problem oder Anlass <strong>für</strong> „öffnendes“ Handeln gesehen würde. Im Gegenteil: Seitens exponierter Verbandsvertreter wird <strong>für</strong><br />
geistig behinderte Menschen z.B. lapidar festgestellt, „nach Ausscheiden aus dem Arbeitsleben verbringen die älteren Bewohner ihren<br />
Tag im Heim oder in einer sonstigen Wohnform“ 21 – kein Gedanke mehr an das Zwei-Milieu-Prinzip also, aber natürlich folgt sofort<br />
der Hinweis auf die erforderlichen „zusätzlichen Personalressourcen“. 22<br />
12) BMAS, a.a.O., Ziff. 10.13, S. 110.<br />
13) Ebd., Ziff. 10.15, S. 110/111.<br />
14) Ebd., S. 111.<br />
15) Befragung in westfälischen Behinderteneinrichtungen; nach: M. Buchka, Zur Lebens- <strong>und</strong> Betreuungssituation alter Menschen mit geistiger Behinderung in<br />
Wohnheimen <strong>und</strong> Werkstätten; zit. in Komp, a.a.O., S. 10/11.<br />
16) Vgl. R. Trost / H. Metzler, Alternde <strong>und</strong> alte Menschen mit geistiger Behinderung in Baden-Württemberg, Stuttgart (Ministerium f. Arbeit, Ges<strong>und</strong>heit u.<br />
Sozialordnung) 1995, S. 27.<br />
17) N. Mätzke, Zukünftige Herausforderungen <strong>für</strong> die Praxis <strong>und</strong> die Sozialpolitik; in: Holz, a.a.O., S. 39.<br />
18) Hierbei wird „Vernetzung“ als Endstufe eines anspruchsvollen Annäherungsprozesses verstanden: vom Ausgangspunkt der Kommunikation (wörtl.: Verständigung,<br />
Verbindung, Zusammenhang, Umgang; in regionalen Systemen: allgemeiner, offener Informationsaustausch, Transparenz über Konzepte, Ziele, Leistungsstrukturen<br />
<strong>und</strong> Leistungsempfänger) über Kooperation (wörtl.: Zusammenarbeit, Zuordnung von Aufgabenbereichen; regional: gemeinsame Festlegung von Aufgabenbereichen,<br />
Zuständigkeiten <strong>und</strong> Schnittstellen, tatsächliche, den Verabredungen entsprechende Aufgabenwahrnehmung) <strong>und</strong> Koordination (wörtl.: gegenseitiges Abstimmen, harmonisches<br />
Zusammenwirken; regional: gemeinsames, übergreifendes Management, Steuerung der abgestimmten Aufgabenwahrnehmung) hinzu echter Vernetzung<br />
(wörtl.: organische, verbindliche Zusammenführung ehemals getrennter Teilsegmente zu einem neuen, eigenständigen Gebilde mit sachgerechter Binnenstruktur; regional:<br />
Leistungsverb<strong>und</strong> als einheitlicher Träger <strong>und</strong> „Lieferant“ aller Kernleistungen).<br />
19) Vgl. G. Gerngroß-Haas, Menschen mit Behinderung im Alter. Leitlinien <strong>für</strong> neue Aufgaben in der Behindertenhilfe; in: Soziale Arbeit, Nr. 8 / 1999, S. 272–277 sowie<br />
Sozialministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Ältere Menschen mit Behinderung, Stuttgart 1999 (darin: Alltagsgestaltung <strong>für</strong> ältere Menschen mit geistiger Behinderung,<br />
S. 19 ff.)<br />
20) E. Wacker, Konzepte aus der Sicht von Forschung <strong>und</strong> Lehre; in: Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.), Behinderte Menschen im Alter. Eine soziale Herausforderung<br />
(Fachtagungsdokumentation), Köln 1999, S. 41.<br />
21) G. Czytrich, Überlegungen der Wohlfahrtsverbände; in: Landschaftsverband Rheinland, a.a.O., S. 56.<br />
22) Ebd.<br />
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