Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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Konzeptionell geht es – so wird betont – nicht um Sozialabbau, sondern um Fördern <strong>und</strong> Fordern, nicht um schlichte Privatisierung,<br />
sondern um soziale Aktivierung; zudem soll auch der Einzelne sich nicht alleine überlassen bleiben, sondern der Staat verlangt<br />
zivilgesellschaftliches Engagement, das die erforderliche Unterstützung bieten soll (vgl. Evers/Leggewie 1999; Heinze/Strünck 2000;<br />
Blanke/v. Bandemer 1999; Bußmann/Stöbe-Blossey 2003; Schröder 2003). Der aktivierende Sozialstaat ist – so gesehen – ein<br />
dreifaches Reformprojekt, das auf die Neugestaltung sozialer Leistungen (vgl. Mezger/West 2000), auf die Neugestaltung der Verwaltung<br />
(vgl. Blanke u.a. 2002; Damkowski/Rösener 2003) <strong>und</strong> nicht zuletzt auf die Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Staat <strong>und</strong><br />
Bürger abzielt (vgl. Heinze/Strünk 2000).<br />
Zu den Hintergründen der Entwicklung<br />
Der aktivierende Sozialstaat ist sowohl ein Kind der ökonomischen Krise als auch der sozialpolitischen Neuorientierung. Es handelt<br />
sich also im Ansatz nicht um eine Art „politische Notschlachtung“ des Wohlfahrtsstaates in der Krisenzeit, sondern durchaus um ein<br />
sozialwissenschaftlich unterfüttertes Projekt, wie die vorangestellten Zitate aus Politik <strong>und</strong> Sozialwissenschaften zeigten.<br />
Die Wurzeln des Konzepts des aktivierenden Sozialstaats liegen im angelsächsischen Raum <strong>und</strong> in der so genannten Theorie des Dritten<br />
Weges von Anthony Giddens, dem sozialwissenschaftlichen Wegbereiter von New Labour. Mit dem Kampf um die politischen<br />
Mehrheiten in den 90er-Jahren wurde dem damals herrschenden neoliberalen Konzept des sozialpolitischen Lean-Managements <strong>und</strong><br />
der Privatisierung (Thatcher u.a.) seitens der so genannten Neuen Sozialdemokratie ein andersartiges Verständnis von Private-Public-<br />
Partnership gegenübergestellt, das sich ebenso deutlich von der traditionellen Wohlfahrtsstaatlichkeit wie vom konservativen Sozialabbau<br />
zu distanzieren suchte. Anthony Giddens (1999) machte die Situation klar, indem er sagte:<br />
„Ich möchte in die Debatte über die Zukunft sozialdemokratischer Politik eingreifen, wie sie zur Zeit in vielen Ländern geführt wird. Die<br />
Gründe <strong>für</strong> diese Debatte liegen auf der Hand: die Auflösung des ‚Sozialstaatskompromisses‘ in den Industrieländern ..., die endgültige Diskreditierung<br />
des Marxismus <strong>und</strong> die tiefgreifenden sozialen, ökonomischen <strong>und</strong> technologischen Veränderungen ...“ (S. 3).<br />
Die Strategie des Dritten Weges – oder zumindest ihre sozialpolitische Komponente, d.h. der aktivierende Sozialstaat, mit dem operativen<br />
Konzept des Förderns <strong>und</strong> Forderns – ist zwischenzeitlich zu einer Art Erfolgsstory geworden, die weit über den angelsächsischen Raum<br />
hinaus in Westeuropa Verbreitung gef<strong>und</strong>en hat, sodass viele Länder diese Entwicklung deutlich weiter vorangetrieben haben, als dies bislang<br />
in der B<strong>und</strong>esrepublik der Fall war. Auch die parteipolitischen Grenzen der Sozialdemokratie hat die Strategie des Dritten Weges inzwischen<br />
deutlich überw<strong>und</strong>en, was man leicht daran erkennen kann, dass sich der Jargon der Aktivierung ebenso bei CDU/CSU, der F.D.P. <strong>und</strong> den<br />
Grünen findet <strong>und</strong> zudem kaum noch aus Anträgen der Freien Wohlfahrtspflege auf <strong>öffentliche</strong> Mittel wegzudenken ist.<br />
Der Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> diesen Erfolg des Konzepts liegt möglicherweise in zwei Aspekten der Anschlussfähigkeit <strong>und</strong> in einem f<strong>und</strong>amentalen<br />
Versprechen an die verunsicherte Gesellschaft in der Dauerkrise.<br />
Die Anschlussfähigkeit ergibt sich erstens in der Analyse, <strong>und</strong> zwar, dass vor jeder Debatte in der Sozialpolitik eine Art Sachzwang<br />
hypostasiert wird, nämlich dass der Sozialstaat alter Provenienz nicht mehr bezahlbar sei, die exorbitanten Lohnnebenkosten zusätzliche<br />
Produktion, Arbeit <strong>und</strong> Wachstum ersticken würden <strong>und</strong> dass die sozialen Leistungen eher wertverzehrend als wertschaffend<br />
wirkten. Diese Analyse unterscheidet sich in annähernd nichts von den Situationseinschätzungen des neoliberalen Strategiekonzepts<br />
<strong>und</strong> ist überdies auch gut verankert im vorherrschenden Problembewusstsein der Gesellschaft <strong>und</strong> der veröffentlichten Meinung.<br />
Die Anschlussfähigkeit des neuen Politikansatzes ist außerdem dort außerordentlich ausgeprägt, wo sich der aktivierende Sozialstaat in<br />
seinem zentralen Konzeptverständnis als eine Art „enabling state“, d.h. als Ermöglichungs- bzw. Befähigungsstaat definiert (vgl. Evers<br />
2000, S. 15), der einerseits Hemmnisse <strong>für</strong> gesellschaftliche Eigentätigkeit <strong>und</strong> Koproduktion abbauen will <strong>und</strong> andererseits förderliche<br />
Rahmenbedingungen <strong>für</strong> gesellschaftliche Initiativen installieren möchte (vgl. Heinze/Strünck 2001, S. 164). Sozialhistorisch erinnert<br />
das sehr stark an die völlig zutreffenden Reformideen des Oskar v. Nell-Breuning Ende der 50er-Jahre am herkömmlichen Subsidiaritätsprinzip:<br />
Schon damals wies der katholische Sozialethiker zu Recht darauf hin (vgl. Frerich 1996, S. 30 ff.), dass das traditionelle<br />
Subsidiaritätsprinzip, wie es Papst Pius XI in der Sozial-Enzyklika Quadragesimo noch anno 1931 formuliert hatte (vgl. Schöpsdau<br />
2001, S. 1563), speziell in dem modernen Sozialstaat nur dahingehend zu verstehen sei, dass dieser Staat gerade <strong>für</strong> die gesellschaftlich<br />
Benachteiligten zuerst einmal die infrastrukturellen Voraussetzungen <strong>für</strong> die Selbsthilfe zu schaffen habe (vgl. Nell-Breuning 1957,<br />
S. 219 ff.).<br />
Der aktivierende Sozialstaat zeigt sich also an dieser Seite sehr offen <strong>für</strong> die Gr<strong>und</strong>strömungen der katholischen Soziallehre <strong>und</strong> ihrer<br />
Reformbewegung, was ihn <strong>für</strong> die christlichen Parteien anschlussfähig macht <strong>und</strong> auch auf die Freie Wohlfahrtspflege sicherlich nicht<br />
unsympathisch wirkt, da die staatliche Förderung des Subsidiaritätsprinzips – zumindest gr<strong>und</strong>sätzlich – ihre Existenzsicherung<br />
verbürgen mag.<br />
Der dritte Erfolgsfaktor <strong>für</strong> die Proliferation des Aktivierungskonzepts ist ein f<strong>und</strong>amentales Versprechen an die verunsicherte<br />
Gesellschaft, <strong>und</strong> zwar das der Inklusion statt Exklusion. Theoretisch liest sich das bei Giddens (1999) beispielsweise so:<br />
„Die traditionelle Hilfe <strong>für</strong> Arme muss durch gemeinschaftsorientierte Maßnahmen ersetzt werden, die eine Beteiligung aller ermöglichen<br />
<strong>und</strong> darüber hinaus effektiv sind. Das gemeinschaftsorientierte Vorgehen baut auf Netzwerke gegenseitiger Unterstützung, Selbsthilfe <strong>und</strong><br />
die Schaffung von sozialem Kapital“ (S. 129).<br />
Diese Theorie – <strong>und</strong> das ist die zentrale Be<strong>für</strong>chtung dieser Abhandlung – lässt sich in der Praxis immer weniger durchhalten bzw. gerät<br />
zunehmend in Vergessenheit. Ein bedrückend aktuelles Beispiel hier<strong>für</strong> ist die Arbeitsmarktpolitik. Bei einem strukturellen Stellendefizit<br />
von mehr als 6 Millionen Arbeitsplätzen hilft auch kein JobCenter, keine PSA (Personal-Service-Agentur), kein Casemanagement<br />
<strong>und</strong> kein noch so professionelles Assessment (vgl. Hartz u.a. 2002), da alle diese Instrumente auf Vermittlung abzielen, also ein<br />
Mismatch-Problem am Arbeitsmarkt unterstellen, jedoch keinerlei neue Arbeitsplätze generieren. Stattdessen werden allerorten<br />
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