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Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

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2) Die Stärkung der Selbsthilfe kann jedoch nicht ausschließlich Aufgabe der gesetzlichen Versicherungssysteme sein, sondern sie ist<br />

eine gesamtgesellschaftliche. Die <strong>öffentliche</strong>n Hände, insbesondere Länder <strong>und</strong> Kommunen, in gewissem Umfang auch der B<strong>und</strong>,<br />

sind hier gefordert, ihre Anstrengungen zu verstärken <strong>und</strong> sich nicht etwa unter Hinweis auf die Verpflichtung der GKV <strong>und</strong> anderer<br />

Reha-Träger aus der Verantwortung zu stehlen. Die Ermöglichung der kollektiven Selbsthilfe von Bürgern, hier von solchen mit<br />

Krankheiten <strong>und</strong> Behinderungen, ist ein wichtiges Element moderner Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialpolitik, ist dringendes Gebot staatlicher<br />

Daseinsvorsorge in einem demokratischen Gemeinwesen, ist ein wichtiger Beitrag zu einer Kultur des Helfens, der Mitmenschlichkeit<br />

<strong>und</strong> Solidarität, ist ‚sozialer Kitt’ gegen zu-nehmende Bindungslosigkeit, Isolation <strong>und</strong> Entfremdung. Das alles kann<br />

es nicht (nur) ‚auf Kasse’ geben!<br />

3) Die Selbsthilfe muß in doppelter Weise in den derzeit stattfindenden Diskussionsprozeß „ges<strong>und</strong>heitsziele.de“ berücksichtigt<br />

werden. Erstens ist ihr Beitrag bei Krankheits- <strong>und</strong> Bevölkerungsgruppen-spezifischen Zielen von Anfang an mit einzubeziehen<br />

(Querschnittsaspekt). Zum anderen sollte die Stärkung der individuellen <strong>und</strong> vor allem der kollektiven Selbsthilfe – weil es hierbei<br />

im wesentlichen um die Schaffung <strong>und</strong> Absicherung von Strukturen, Einrichtungen <strong>und</strong> Kristallisationskernen, sowie um Beteiligung<br />

<strong>und</strong> Mitsprache geht – zu einem eigenständigen Ges<strong>und</strong>heitsziel erklärt werden.<br />

4) Wenn Selbsthilfe als ‚Korrektiv’ gewünscht ist – d.h. als Kritiker, aber eben auch als Verbesserer, als Widerpart, aber eben auch als<br />

‚Ausbalancierer’ – dann muß sie beteiligt werden. In allen Gremien des Ges<strong>und</strong>heitswesens, vom sog. Gemeinsamen B<strong>und</strong>esausschuß<br />

bis zum klinischen Ethik-Komitee <strong>für</strong> Behandlungsfragen an einem örtlichen Krankenhaus, von Leitlinien-Kommissionen bis<br />

zu ärztlichen Qualitätszirkeln, von lokalen Ges<strong>und</strong>heitskonferenzen <strong>und</strong> R<strong>und</strong>en Tischen bis zu Schlichtungs- oder Beschwerdestellen<br />

ist zu prüfen, zu welchen Fragen in welcher Weise die Perspektive <strong>und</strong> das Erfahrungswissen von Patienten mit einbezogen<br />

werden kann. Und über die Ergebnisse dieser Prüfung ist Bericht zu erstatten. Nach Lage der Dinge werden Vertreter von Selbsthilfegruppen<br />

oder Selbsthilfeorganisationen hier in der Regel die bestmögliche realisierbare Lösung darstellen. Die Eignung von<br />

Personen muß hier Vorrang haben vor formaler Legitimität. Die oft gestellte Frage nach geeigneten Selektions- <strong>und</strong> Berufungskriterien<br />

ist selbstverständlich ernst zu nehmen. Der Hinweis auf noch ungeklärte Legitimitätsfragen wird jedoch in den allermeisten<br />

Fällen von jenen als ‚Totschlag-Argument’ in die Debatte eingebracht, die eine Patientenbeteiligung gar nicht wollen. Man muß<br />

nicht auf die Bildung einer B<strong>und</strong>espatientenkammer warten, bevor man mit substantieller Patientenbeteiligung beginnt. Im übrigen<br />

haben die Professoren Francke <strong>und</strong> Hart (2001) in ihrem Gutachten über „Bürgerbeteiligung im Ges<strong>und</strong>heitswesen“ hierzu bereits<br />

interessante Vorschläge entwickelt, die im Falle des Gemeinsamen B<strong>und</strong>esausschusses auch bereits erfolgreich umgesetzt werden:<br />

ab 2004 sind hier „sachk<strong>und</strong>ige Personen“ beteiligt, die von vier, durch das BMGS anerkannte, Organisationen zur Vertretung von<br />

Patienteninteressen einvernehmlich benannt werden.<br />

5) Die Selbsthilfe ist oder wird jedoch nicht nur ein tragendes Element <strong>und</strong> ein Korrektiv in unserem Ges<strong>und</strong>heitswesen auf Systemebene,<br />

sondern sie berührt die un-mittelbare klinische Arbeit von Ärzten, Psychotherapeuten, Sozialarbeitern, Pflegekräften etc.,<br />

nämlich die Begegnung zwischen kranken oder behinderten Menschen auf der einen, <strong>und</strong> heilenden, rehabilitierenden, beratenden<br />

oder pflegenden Menschen auf der anderen Seite. Patienten werden kompetenter, gerade auch durch die Aktivitäten von Selbsthilfegruppen,<br />

Selbsthilfeorganisationen <strong>und</strong> Selbsthilfe-Kontaktstellen, stärker motiviert <strong>und</strong> besser befähigt zur Mitarbeit <strong>und</strong> zur<br />

Übernahme von Mitverantwortung im Behandlungsprozeß (‚Ko-Produktion von Ges<strong>und</strong>heit’). Solche nun häufiger auftretenden<br />

Begegnungen mit gut informierten <strong>und</strong> ‚mündigen’ Patienten ist <strong>für</strong> manche Behandler eine erfreuliche Entwicklung, <strong>für</strong> viele aber<br />

doch noch äußerst gewöhnungsbedürftig. Wissen über Selbsthilfegruppen <strong>und</strong> die Entwicklung positiver Einstellungen ihnen<br />

gegenüber muß deswegen in der Curricula der Aus-, Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung aller medizinischen <strong>und</strong> sozialen Berufe fest verankert<br />

werden. Neben den Spezialisten der Selbsthilfe-Anregung,<br />

-Unterstützung <strong>und</strong> -Beratung, etwa in den Selbsthilfe-Kontaktstellen, muß sich eine allgemeine Befähigung dazu bei möglichst<br />

allen Angehörigen helfender Berufe entwickeln.<br />

6) Ges<strong>und</strong>heit steht auf der Werteskala der Bevölkerung in allen Umfragen auf Platz 1. Ihre Erhaltung oder Wiederherstellung sowie<br />

die Integration kranker <strong>und</strong> behinderter Menschen in unserem Gemeinwesen ist zugleich eine höchst persönliche Angelegenheit, im<br />

wahrsten Sinne am eigenen Leibe zu spüren, aber eben auch eine <strong>öffentliche</strong> Aufgabe <strong>für</strong> die Gesellschaft insgesamt, ein Staatsziel,<br />

ein Menschenrecht. Auf beiden, so weit entfernten <strong>und</strong> doch so eng miteinander zusammenhängenden Ebenen kann die Selbsthilfe<br />

einen ganz wesentlichen <strong>und</strong> eigenständigen Beitrag leisten.<br />

„Du allein kannst es, aber Du kannst es nicht allein“ heißt ein Motto der Anonymen Alkoholiker. In diesem Sinne will die Selbsthilfe<br />

mitreden <strong>und</strong> gehört werden, <strong>und</strong> zwar im Dialog mit allen anderen Beteiligten. Ohne diese ‚vierte Säule’, <strong>und</strong> zwar verläßlich<br />

gefördert, stabilisiert <strong>und</strong> ausgebaut, wird unser Ges<strong>und</strong>heitswesen wei-terhin auf der Kippe stehen („Mit der Vierten steht man<br />

besser!“); <strong>und</strong> ohne Korrektiv kann ein Kurs leicht in die Irre führen – auch der, den wir alle gemeinsam aus der „Intensivstation<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen“ hinausfinden wollen <strong>und</strong> müssen.<br />

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