01.12.2012 Aufrufe

Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

familiären Kontext in andere Wohnformen, benötigen spezifische Vorbereitung <strong>und</strong> Begleitung; hierauf verweisen auch aktuelle Verlautbarungen<br />

der WHO. 8<br />

Welche Angebote der Tagesstrukturierung, Förderung <strong>und</strong> Beschäftigung sollen zukünftig den immer zahlreicher wegen Erreichens der<br />

Altersgrenze aus den Werkstätten ausscheidenden behinderten Menschen zur Verfügung stehen? Inwieweit sind die Wohn- <strong>und</strong><br />

Betreuungsstrukturen der Behindertenhilfe auf die mit wachsender Alterung einhergehenden, wachsenden Betreuungs- <strong>und</strong> Pflegebedarfe<br />

der Behinderten bereits eingestellt? Wie kann das fachpolitisch bedeutsame „Zwei-Milieu-Prinzip“ gewahrt werden, wenn<br />

altersbedingt der Tagesaufenthalt in der Werkstatt oder der Tagesförderstätte entfällt? Inwieweit unterscheiden sich die denkbaren, in<br />

der Behindertenhilfe neuen oder anzupassenden Versorgungsstrukturen eigentlich von den vorhandenen Angeboten der offenen Altenhilfe<br />

<strong>und</strong> der Pflege? Inwieweit unterscheiden sich die Bedürfnisse der Zielgruppen alt werdender <strong>und</strong> ggf. auch pflegebedürftig werdender<br />

Erkrankter <strong>und</strong> Behinderter von denen der – zu erheblichen Teilen ebenfalls behinderten (s.o.) <strong>und</strong> pflegebedürftigen – Älteren<br />

so signifikant, dass getrennte Versorgungsangebote vorgehalten werden müssen?<br />

Welche zusätzlichen Aspekte eröffnet der vergleichende „europäische Blick“ – welche Erfahrungen aus Nachbarländern (z.B. Dänemark,<br />

Niederlande) mit weniger gegliederten, stärker final orientierten Versorgungssystemen können herangezogen werden?<br />

Diesen Fragen gilt es im Folgenden nachzugehen, Hypothesen zu entwerfen <strong>und</strong> ein Erprobungsprojekt zu skizzieren, welches geeignet<br />

ist, diese Fragen zu beantworten bzw. in der Beantwortung der Fragen zumindest weiterzuführen.<br />

2. Ziele / Paradigmen der modernen Behinderten- <strong>und</strong> Altenhilfe<br />

Rehabilitation <strong>und</strong> Teilhabe orientieren sich an den <strong>für</strong> alle Konzepte moderner Behindertenpolitik gültigen Gr<strong>und</strong>sätzen der Normalisierung,<br />

Selbstbestimmung, Integration <strong>und</strong> Regionalisierung, wonach behinderte Menschen gleiche Chancen zur Gestaltung ihres Lebens<br />

erhalten sollen wie Menschen ohne Behinderung. Sie sollen soweit wie möglich selbst bestimmen können, wo <strong>und</strong> wie sie leben<br />

möchten <strong>und</strong> welche Ausbildungs- <strong>und</strong> Arbeitsangebote sie wahrnehmen. In der konkreten Ausgestaltung des Hilfesystems sollen sie<br />

beteiligt werden. Diese Gr<strong>und</strong>sätze haben mit der 1994 ins Gr<strong>und</strong>gesetz (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) eingefügten Antidiskriminierungsvorschrift<br />

in Deutschland Verfassungsrang erhalten. Mit diesem gegenüber allen staatlichen <strong>und</strong> <strong>öffentliche</strong>n Organen unmittelbar<br />

geltenden Recht wurde der Rechtfertigungsmaßstab <strong>für</strong> nachteilige Ungleichbehandlungen verschärft <strong>und</strong> die gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Verpflichtung zu ausgleichenden Maßnahmen unterstrichen. Mit dem zum 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuch IX – Rehabilitation<br />

<strong>und</strong> Teilhabe behinderter Menschen – wurde das vorstehende Paradigma <strong>für</strong> das gesamte Sozialrecht konkretisiert. 9<br />

Das verfassungs- wie sozialrechtlich bestimmte Normalisierungsprinzip ist sowohl Maßstab <strong>für</strong> die Beurteilung der Ist-Situation im<br />

umfassend verstandenen Hilfesystem wie auch Kriterium bei den Weiterentwicklungsvorstellungen, die zudem auf die partnerschaftliche<br />

Zusammenarbeit mit Trägern, Betroffenen <strong>und</strong> Interessenvertretungen setzen.<br />

Die Zielstellungen moderner Altenhilfe lassen sich ebenfalls mit den Begriffen Normalität, Selbstbestimmung, Integration <strong>und</strong> Regionalisierung<br />

erfassen.<br />

Die Gegenüberstellung zeigt, dass von den allgemeinen Zielen über notwendige Strukturen bis hin zu den Weiterentwicklungsperspektiven<br />

eine deutliche Schnittmenge von Behinderten- <strong>und</strong> Altenhilfe angenommen werden kann. 10 Dies gilt nicht nur <strong>für</strong> die<br />

offene Altenhilfe, sondern <strong>für</strong> die die Pflege einschließende, umfassend verstandene Altenhilfe sogar in noch weitergehendem Maße,<br />

da hier das Auf-Hilfe-Angewiesen-Sein <strong>und</strong> Verfügen über nur noch eingeschränkte Selbsthilfepotenziale ebenso kennzeichnend <strong>für</strong><br />

das Gros der „Klienten“ des Systems ist wie in der Behindertenhilfe.<br />

Erforderlich ist allerdings ein häufig erst noch zu entwickelndes, systemneutrales, auf die Subjekte des zu Gestaltenden <strong>und</strong> ihre<br />

Bedürfnisse orientiertes Denken: „Vom Denken in Behinderungsarten müssen wir zur personenbezogenen <strong>und</strong> bedürfnisorientierten<br />

Sichtweise gelangen.“ 11 – ein Satz, der analog <strong>für</strong> die Altenhilfe (hier noch stärker strukturbezogen: offene, geschlossene Altenhilfe,<br />

Pflege) formuliert werden kann. Ein AEDL-orientierter <strong>und</strong> gleichzeitig auf Förderung, Aktivierung <strong>und</strong> Partizipation ausgelegter<br />

Ansatz würde es erlauben, bisherige Unterscheidungen zwischen behinderten <strong>und</strong> anderen Älteren aufzugeben <strong>und</strong> ausgehend von<br />

biographisch begründeten Unterscheidungen <strong>und</strong> konkreten Lebensräumen (Beheimatungen) zu strukturieren. Allerdings müssen bei<br />

einer solchen Systementgrenzung <strong>und</strong> Anvisierung vernetzter Projekte die positiven Aspekte in der Wahrnehmung aller Akteure klar<br />

überwiegen: Für die Eingliederungshilfe wäre dies der Aspekt der Systemöffnung <strong>und</strong> -verbreiterung, <strong>für</strong> die behinderten Menschen<br />

die Normalisierungserfahrung, <strong>für</strong> Altenhilfe <strong>und</strong> Pflege die Standardentwicklung in Richtung der häufig als besonders gut ausgestattet<br />

erlebten Eingliederungshilfe.<br />

8) Vgl. WHO + International Association for the Scientific Study of Intellectual Disabilities (IASSID), Health Issues and Practices Relative to Ageing Persons with<br />

Intellectual and Developmental Disabilities: Social & Health Policy (Draft V.2 06/Nov/98); hierin werden bezugnehmend auf die Ziele der „United Nations Principles<br />

for Older Persons“ (Resolution 46/91) – independance, participation, care, self-fulfilment, dignity – <strong>und</strong> auf das seinerzeit laufende Internationale Jahr der Senioren (IJS)<br />

staatliche Untersuchungen zur Problematik be<strong>für</strong>wortet, es wird auf den entsprechenden Aus- <strong>und</strong> Fortbildungsbedarf hingewiesen, die Notwendigkeit der Beschäftigungsförderung<br />

<strong>für</strong> alternde behinderte Menschen betont, Vorbereitung auf den Ruhestand <strong>und</strong> Begleitung beim Übergang gefordert <strong>und</strong> die Thematik insgesamt als in<br />

der generationenübergreifenden gesellschaftlichen Solidarität zu platzierend bezeichnet.<br />

Zur Gesamtthematik vgl. auch B<strong>und</strong>esvereinigung Lebenshilfe e.V. (Hrsg.), Persönlichkeit <strong>und</strong> Hilfe im Alter; Marburg 2000.<br />

9) Vgl. P. Gitschmann, Mehr Selbstbestimmung <strong>und</strong> Teilhabe <strong>für</strong> behinderte Menschen – SGB IX als Reformchance; in: Nachrichtendienst des Deutschen <strong>Verein</strong>s …<br />

(NDV), Nr. 1 / 2002; S. 16–20.<br />

10) So auch H. Ziller, Eingliederungshilfe <strong>für</strong> behinderte Menschen <strong>und</strong> Altenhilfe; in: Hessisches Sozialministerium / Landeswohlfahrtsverband Hessen / B<strong>und</strong>esvereinigung<br />

Lebenshilfe e.V. (Hrsg.), Lebensräume älterer Menschen mit Behinderung; Marburg 2001; S. 111–122.<br />

11) Komp, a.a.O., S. 5.<br />

Zurück zum Inhalt<br />

263

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!