Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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In der ICF wird die Erkenntnis berücksichtigt, dass sich eine Behinderung aus dem Zusammenwirken von umwelt- <strong>und</strong> bio-psychosozialen<br />
personenbezogenen Faktoren ergibt. Es wird unterschieden zwischen Funktionen, Strukturen, Aktivitäten <strong>und</strong> Teilhabechancen<br />
als Dimensionen, die Behinderung bedingen. Wesentlich sind vor allem auch die Umgebungsvariablen, die sich hinderlich oder<br />
förderlich auswirken können.<br />
Denn das Leben mit Einschränkung ist nur zum Teil abhängig von den bestehenden Körperfunktionsfähigkeiten. Vielmehr entsteht<br />
Behinderung durch einen Mangel an Übereinstimmung zwischen der individuellen Lage einer Person, ihren Kompetenzen, ihren<br />
Grenzen <strong>und</strong> Bedürfnissen einerseits <strong>und</strong> einem hilfreichen oder hinderlichen Umfeld andererseits.<br />
Eine Folge dieser neuen international anerkannten Sicht auf Behinderung ist, dass das Ziel erfolgreicher Rehabilitation nun lautet,<br />
Inklusion zu realisieren. Inklusion, d.h. gesellschaftliche Teilhabe, bedeutet, in der Gemeinde zu leben <strong>und</strong> dort an ihrem Leben teilzuhaben<br />
als respektierter Bürger. Also ist es überholt, sich auf Un-Fähigkeiten zu konzentrieren. Vielmehr geht es darum, vorhandene<br />
verfügbare oder potenzielle Fähigkeiten zu prüfen <strong>und</strong> zu fördern. Inklusion bemisst sich danach, wie es dem Einzelnen gelingt, an<br />
relevanten <strong>und</strong> gewünschten gesellschaftlichen Teilsystemen teilzuhaben (vgl. Wacker 2001, 47ff.).<br />
Inklusion bezieht sich auf generelle Rechte <strong>und</strong> Pflichten, welche jedes Mitglied der Gesellschaft im Leben haben sollte (vgl. Giddens<br />
1999, 120). Es geht dabei um individuelle Chancen <strong>und</strong> gesellschaftliche Partizipation, die <strong>für</strong> alle Bürger gleichgültig sein müssen.<br />
Diese Entwicklung wird aufgegriffen vom Neuen Sozialgesetzbuch (SGB IX), das im Jahr 2001 in Kraft trat. Es regelt die Dienste der<br />
Rehabilitation, die zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungserfahrung bereitstehen. Damit verliert Rehabilitation ihren<br />
paternalistisch-<strong>für</strong>sorglichen Charakter. Sie wandelt sich zu sozialer Dienstleistung <strong>für</strong> Menschen, die besondere Unterstützungsbedarfe<br />
haben, <strong>und</strong> folgt dem Ziel, sie zu befähigen, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen <strong>und</strong> am Leben in der Gesellschaft gleich<br />
zu partizipieren.<br />
Dieser Perspektivenwechsel ist eine Herausforderung <strong>für</strong> das in Deutschland traditionell wohlfahrtszentrierte <strong>und</strong> <strong>für</strong>sorgeorientierte<br />
Rehabilitationswesen. Bisherige Konzepte werden in Frage gestellt <strong>und</strong> die Qualität der Angebote muss neu bemessen werden, nach<br />
der Maßgabe der Zielerfüllung <strong>und</strong> Nutzerzufriedenheit.<br />
1.2 Hilfe neu gestalten: Von der <strong>Fürsorge</strong> zur autonomen Lebensführung<br />
Ein Bestandteil der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungserfahrung ist nicht nur, dass sie „verschieden“ sind, sondern auch,<br />
dass sie als Besondere klassifiziert <strong>und</strong> behandelt werden.<br />
Zwar gilt seit 1994 ein „Anti-Diskriminierungsgesetz“ (GG Art 3,3) in Deutschland, das feststellt: „Keiner darf aufgr<strong>und</strong> einer Behinderung<br />
benachteiligt werden.“ Aber: Benachteiligung zu verbieten, sichert nicht zugleich auch Gleichstellung. Und gleich behandelt zu<br />
werden, sichert nicht immer auch gleiche Chancen. Wenn man als behindert klassifiziert wird, wird man zunächst Mitglied der<br />
Gemeinschaft der Behinderten. Individualität, verschiedene Fähigkeiten, Bedarfe, Vorlieben, Wünsche <strong>und</strong> Sorgen verschwinden unter<br />
einer Klassifikation: der Behinderung.<br />
Hieran orientieren sich bis zum heutigen Tag die meisten deutschen Hilfeanbieter. Tatsache ist, dass sie zwar – gemäß dem Prinzip der<br />
Normalisierung – ihre Angebote weiterentwickeln <strong>und</strong> diffenzieren nach verschiedenen Lebensaltern <strong>und</strong> Lebensumständen. Integration<br />
findet aber weitgehend innerhalb des Systems der Hilfen statt.<br />
Obwohl das Normalisierungsprinzip niemals auf ein Durchschnittsleben verpflichten wollte, entwickelte sich in Deutschland das<br />
ausdifferenzierte System der Hilfen doch nach dem Prinzip des „One-Size-Fits-All“. D.h. wir können gegenwärtig zwar stolz sein auf<br />
ein nicht wirklich knapp bemessenes Budget <strong>für</strong> ein sich kontinuierlich weiterentwickelndes Hilfesystem. Dort sind ein hoher<br />
materieller <strong>und</strong> professioneller Standard der Hilfen angesiedelt. Aber dieses System ist ausgerichtet auf die Entscheidungen der Anbieter<br />
<strong>und</strong> auf ihre Definition von Qualität der Hilfen. Der Preis <strong>für</strong> die Unterstützung ist die Enteignung von Kompetenzen, das Verkümmern<br />
von Potenzialen <strong>und</strong> die Ausgrenzung. Die Gemeinschaft beschützt <strong>und</strong> entlastet die Behinderten <strong>und</strong> zugleich sich selbst, von ihrer<br />
Verpflichtung zur Inklusion. Folglich finden sich die Behinderungserfahrenen im Zentrum der <strong>Fürsorge</strong> – umgeben von Helfern – aber<br />
zugleich außerhalb der Bürgergemeinschaft. Integration <strong>und</strong> Normalisierung finden hingegen innerhalb der besonderen <strong>Fürsorge</strong>systeme<br />
statt.<br />
Eine Seite dieser „<strong>für</strong>sorglichen Belagerung“ ergibt sich aus dem „Schmelztiegel“ Behinderung <strong>und</strong> der daraus folgenden Versuchung,<br />
Behinderte alle uniform, d.h. gleich zu behandeln. Integration gelingt dann umso leichter, je mehr die Einzelnen sich dem Integrationssystem<br />
anpassen <strong>und</strong> sich dort gewissermaßen normal verhalten. Diese Erwartung der Gleichförmigkeit verschließt jedoch die<br />
Augen vor Verschiedenheit <strong>und</strong> missachtet Eigen-Sinn.<br />
Der eigentliche Ansatzpunkt von Rehabilitation muss aber sein, als Individuum respektiert zu werden <strong>und</strong> gleiche Teilhabechancen zu<br />
haben. Es geht nicht darum, Verschiedenheit zu verleugnen oder zu verbergen, sondern sie anzuerkennen als eigene Seinsweise. Dies<br />
führt zu einem Richtungswechsel auch in den Angeboten <strong>für</strong> diesen Personenkreis. Von der Entwicklung der Hilfeangebote aus Sicht<br />
der Anbieter gilt es Abschied zu nehmen zugunsten der personenzentrierten Unterstützung. Daraus ergibt sich eine neue Leitidee der<br />
Rehabilitation. Sie führt zu der Individualisierung der Hilfen. Diese müssen betrachtet werden als Ressourcen, die dabei stützen, einen<br />
eigenen Lebensstil zu entwickeln, eigene Fähigkeiten <strong>und</strong> Bedürfnisse aufzubauen zugunsten eines möglichst unabhängigen <strong>und</strong> selbstbestimmten<br />
Lebens.<br />
Der Maßstab <strong>für</strong> Lebensqualität wird dann individuelles Wohlbefinden <strong>und</strong> tatsächliche Teilhabe am Leben in der Gemeinde.<br />
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