Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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• Unabhängige Beratung<br />
Die Unabhängigkeit der beratenden Instanz von Kostenträgern <strong>und</strong> Anbietern ist wesentlich. Ihre Aufgabe liegt ausschließlich in der<br />
Vertretung der Interessen der Menschen mit Behinderungserfahrung, Interessenskonflikte mit anderen Stellen dürfen nicht bestehen.<br />
Denkbar ist daher, dass die Budgetassistenz von einem selbstständigen Dienst oder einer Selbstvertretungsorganisationen erbracht wird.<br />
Gerade Formen des Peer-Counselling haben sich international bewährt.<br />
• Ist die Zufriedenheit der Budgetnehmer ein lohnendes Ziel?<br />
Internationale Forschungen lehren, dass es nur sehr begrenzt gelingen kann, die Lebensqualität von Budgetnehmerinnen <strong>und</strong> -nehmern<br />
zu erfassen, indem man ihre subjektive Einschätzung der generellen Lebenszufriedenheit misst. Denn ein höheres Maß an Selbstbestimmung<br />
<strong>und</strong> Verantwortung bringt auch ein höheres Maß an Unsicherheit, an neuen Herausforderungen <strong>und</strong> Anforderungen mit sich.<br />
Damit könnte zunächst steigende Unzufriedenheit einhergehen. Gleichzeitig lernen Budgetnehmer verstärkt ihre eigenen Rechte <strong>und</strong> Bedürfnisse<br />
kennen. Dies kann dazu führen, dass sie Behinderungen <strong>und</strong> Benachteiligungen deutlicher wahrnehmen. Es ist also damit zu<br />
rechnen, dass sich bei vielen Budgetnehmern gerade in der Anfangsphase des Budgetmodells eine größere Unzufriedenheit zeigt.<br />
Für Nutzerbefragungen folgt daraus, dass sie mit großer Sorgfalt geplant <strong>und</strong> durchgeführt werden müssen. Sie sollen zum einen sehr<br />
differenziert Veränderungen der objektiven Lebensbedingungen erfassen <strong>und</strong> zum anderen der individuellen Lebenssituation <strong>und</strong> ihrer<br />
Einschätzung gerecht werden.<br />
Diese Überlegungen zur Budgetfähigkeit auch von Menschen mit kognitiven Einschränkungen machen insgesamt deutlich, dass die<br />
Aufforderung oder Berechtigung zur Mitwirkung alleine nicht genügt. Vielmehr müssen sie dazu erst befähigt werden, indem sie über<br />
Steuerungsinstrumente eines Angebotswandels ebenso verfügen können wie über Schlüsselqualifikationen zur Mitwirkung.<br />
Durch die<br />
• Befähigung, individuelle Ressourcen zu entwickeln, (wieder-) zu entdecken <strong>und</strong> zu nutzen (Enabeling <strong>und</strong> Empowerment),<br />
• Berechtigung, eigene personale <strong>und</strong> soziale Ressourcen zum Einsatz zu bringen (Self-Government <strong>und</strong> Subsidiarität),<br />
• finanziellen Ressourcen, Hilfen nach dem eigenen Bedarf <strong>und</strong> den individuellen Bedürfnissen einzukaufen (Gr<strong>und</strong>sicherung oder<br />
Persönliches Budget)<br />
• Gelegenheiten, im Leben der Gemeinschaft eine bedeutende Rolle zu spielen <strong>und</strong> Anerkennung zu finden (berufliche Integration <strong>und</strong><br />
soziale Inklusion).<br />
3. Mit Unterstützung nach Maß zu mehr Teilhabe<br />
Menschen mit Behinderungserfahrung stehen vor neuen Herausforderungen <strong>und</strong> Chancen: Im § 9 Abs. 3 SGB IX schlägt sich dies nieder<br />
in Form einer Anweisung <strong>für</strong> die entsprechenden Dienste: „Leistungen, Dienste <strong>und</strong> Einrichtungen lassen den Leistungsberechtigten<br />
möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände <strong>und</strong> fördern ihre Selbstbestimmung.“<br />
Die Leitidee der Teilhabe an den Lebensweisen <strong>und</strong> -standards der Gesellschaft richtet sich auf objektive Unterstützungsbedarfe durch<br />
Benachteiligungen. Diese sind durch sozialpolitische Steuerung aufzuheben. Der Aspekt der Eigenverantwortung <strong>und</strong> Selbstbestimmung<br />
erstreckt sich aber auch auf die subjektive Bewertung, auf die Bedürfnisse, die individuelle Zufriedenheit <strong>und</strong> das Wohlbefinden<br />
jedes Einzelnen. Jeder hat die Chance <strong>und</strong> die Pflicht, Verantwortung <strong>für</strong> das Gelingen des eigenen Lebens übertragen zu bekommen<br />
<strong>und</strong> nach den eigenen Möglichkeiten zu übernehmen. Denn: Entwicklungsziele von Rehabilitation sind Autonomie <strong>und</strong> Partizipation.<br />
Mit den neuen Gesetzen zur Partizipation oder zur Barrierefreiheit stehen wir in Deutschland am Beginn eines langen Weges. Die<br />
gelebte Veränderung im Alltag steht noch weitgehend aus. Auch durch Umdenken sind noch viele Barrieren in den Köpfen abzubauen.<br />
Sie basieren auf ungenügendem Wissen voneinander, geringem Zutrauen oder mangelnder Erfahrung des Miteinander.<br />
Neue Balancen zwischen Anbietern <strong>und</strong> Nutzern müssen entstehen unter den Vorzeichen verbesserter Umweltbedingungen <strong>und</strong><br />
wachsender Kompetenzen zu aktiv gesteuerter Umweltaneignung. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben muss nach Wunsch der<br />
Nutzerinnen <strong>und</strong> Nutzer vorangetrieben <strong>und</strong> ihre Selbstverfügungskräfte durch Kompetenzerweiterung gestärkt werden. Die Erfordernisse<br />
der Partizipation zwingen das traditionelle System der Behindertenhilfe zu einer kritischen Bilanz des Passungsverhältnisses<br />
zwischen ihren Angeboten auf der einen <strong>und</strong> den individuellen Lebens- <strong>und</strong> Bedürfnislagen ihrer Adressaten auf der anderen Seite<br />
(vgl. Wansing 2003). Gegenwärtig stellt sich hierbei die Gr<strong>und</strong>satzfrage, ob das System der Behindertenhilfe eher einen Inklusionsvermittler<br />
oder eine Exklusionsinstanz darstellt. Die organisierte Behindertenhilfe als Rehabilitationsinstanz muss sich dabei derzeit<br />
dem „Motivverdacht der Selbsterhaltung“ aussetzen. Denn dass sich in der Regel die Fürsprecher der behinderten Menschen gleichzeitig<br />
auch in der Rolle des Angebotsproduzenten befinden, führt zwangsläufig zum (Ziel-)Konflikt. Solange zwischen Leistungsanbietern<br />
<strong>und</strong> Nutzerinnen <strong>und</strong> Nutzern ihrer Angebote eine Interaktion nicht vorgesehen ist, entsteht die Qualität der Hilfen unabhängig von<br />
den Klienten, alleine durch das Erreichen der Ziele, die sich die Anbieter gesetzt haben.<br />
Es gibt aber immer mehr als nur eine Möglichkeit, mit Beeinträchtigungen umzugehen <strong>und</strong> Behinderungen zu bewältigen. Die Vielfalt<br />
der Bewältigungsmuster findet sich oft weniger in routinierten professionellen Programmen als vielmehr in den lebensweltlichen<br />
Kompetenzen <strong>und</strong> Ressourcen der Nutzer selbst.<br />
Soll durch die Qualität der Unterstützung Lebensqualität ermöglicht werden, ist Teilhabe Ziel <strong>und</strong> Weg der Rehabilitation sowie<br />
Maßstab <strong>für</strong> ihr Gelingen oder Scheitern zugleich.<br />
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