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Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

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Auf eine Formel gebracht heißt das: Hilfe ohne gelingende Teilhabe trägt das Scheitern in sich!<br />

Echte Teilhabe realisiert sich aber erst über aktive Mitwirkung <strong>und</strong> Mitbestimmung. „Weg davon, dass Professionelle Entscheidungen<br />

<strong>für</strong> behinderte Menschen treffen <strong>und</strong> hin zu unabhängiger Entscheidungsfindung <strong>und</strong> Übernahme von Verantwortung durch behinderte<br />

Menschen“, formuliert es die Deklaration von Madrid.<br />

Unterstützung erhält so eine neue Zielrichtung: Sie muss mit Rat <strong>und</strong> Tat darauf gerichtet sein, der Selbstbestimmung zu dienen, zur<br />

eigenständigen Lebensführung so weit wie möglich zu befähigen <strong>und</strong> die Pioniere des Perspektivenwechsels ermuntern, ihren eigenen<br />

Weg zu finden <strong>und</strong> darauf voranzuschreiten: Neue Hilfe ist Unterstützung nach Maß <strong>für</strong> ein Leben in der Gemeinschaft.<br />

Die <strong>öffentliche</strong> <strong>Fürsorge</strong> <strong>und</strong> die traditionelle Behindertenhilfe gelangen damit an den Scheideweg. Werden sie aus Sorge vor dem<br />

Exodus ihrer Klienten auf der strikten Verteidigung der mit großer Hingabe über Jahrzehnte entwickelten Aktionsfelder der<br />

Wohlfahrtspflege beharren? Auch um den Preis, mögliche weitere Handlungsspielräume <strong>für</strong> ihre Klienten <strong>und</strong> deren wachsende<br />

Selbstständigkeit <strong>und</strong> Selbstbestimmungskompetenz zu behindern? Können Sie sich vom dem stationären „All-inclusive-Versorgungssystem“<br />

lösen? Werden sie sich öffnen <strong>für</strong> Erfahrungen mit dem neuen Modell der Hilfebedarfsdeckung <strong>und</strong> Unterstützungssteuerung<br />

über Persönliche Budgets?<br />

Vor einigen Jahren haben sich andere europäische Länder bereits auf den Weg dorthin gemacht. Die Niederlande, England <strong>und</strong><br />

Schweden habe gute Erfahrungen mit „Personal Budgets“ bzw. mit „Direct Payments“ gesammelt. Sie haben – je passend zu ihrem<br />

Sozialsystem – <strong>für</strong> Menschen mit Behinderungserfahrung die Chance eröffnet, ihren eigenen Weg zu gehen, ihre eigene Unterstützung<br />

zu organisieren <strong>und</strong> ihr eigenes Budget alleine oder mit Hilfe von Unterstützern zu managen. In all diesen Ländern gehören gemeindeintegrierte<br />

Unterstützungssysteme zur Regel <strong>und</strong> die Zahl barrierefrei gestalteter Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt wächst<br />

(vgl. Socialstyrelsen 2002). Und keines dieser Länder will die Uhr zurückdrehen. Manche der neuen Budgetnehmer beklagen, dass das<br />

Budget nicht ausreiche, alle Wünsche zu erfüllen, aber die meisten wertschätzen ihre neuen Entscheidungsräume <strong>und</strong> Steuerungs- <strong>und</strong><br />

Kontrollchancen (vgl. Ratzka 1996). Und auch die Anbieter selbst begrüßen die neuen Aufgaben als Herausforderung an die Qualität<br />

ihrer Angebote (vgl. Ridley, Jones 2002, 35).<br />

In Deutschland steckt die Idee des Persönlichen Budgets noch in den Kinderschuhen. In Rheinland-Pfalz wurde von 1998 bis 2001 ein<br />

Modellprojekt durchgeführt (vgl. Kaas 2002). Baden-Württemberg nimmt eben die Schwelle zur Umsetzung, ebenso wie Hamburg. Mit<br />

unserem Modellprojekt PerLe: Personenbezogene Unterstützung <strong>und</strong> Lebensqualität (vgl. Perle 2001; Wansing, Hölscher, Wacker<br />

2002; Hölscher, Wacker, Wansing 2003; Wacker, Wansing, Hölscher 2003; Wansing, Hölscher, Wacker 2003) sind wir – mit Beratung<br />

der vier großen Wohlfahrtsverbände – eingeb<strong>und</strong>en in viele Beratungs- <strong>und</strong> Entwicklungsprozesse <strong>und</strong> beginnen gerade einen eigenen<br />

Modellversuch in Nordrhein-Westfalen.<br />

Bislang unterscheiden sich die in Deutschland begonnenen oder angedachten Modellversuche in Umfang, Zuschnitt <strong>und</strong> Zielgruppe.<br />

Daher darf man nicht müde werden, bei den Modellerprobungen hinter die Kulissen zu schauen <strong>und</strong> den gemeinsamen Erkenntnisgewinn<br />

zu suchen.<br />

Eine Last, die alle Modellversuche zu tragen haben, ist der Mangel an geeigneten gemeindenahen Diensten <strong>und</strong> der unzureichende<br />

Ausbau unabhängiger Beratungsstellen. Dies ist in Deutschland ein ernst zu nehmendes Hindernis, um mit einem Persönlichen Budget<br />

gut haushalten zu können. Eine andere Gefahr liegt in der Versuchung, der die Leistungsträger nur zu leicht erliegen könnten, das Persönliche<br />

Budget als einfache Einsparungschance zu gestalten. Ohne differenzierte Sicht auf die individuellen Bedarfe <strong>und</strong> Bedürfnisse<br />

der Nutzer hieße das, am falschen Ende zu sparen.<br />

Es bleibt dennoch die Hoffnung, dass die nicht zu ferne Zukunft uns lehren wird, wie man mit überkommenen Traditionen bricht, die<br />

Menschen aus dem System der sozialen Aufgaben ausschließen zugunsten einer „All-inclusive-Versorgung“.<br />

Das deutsche Schiff der Wohlfahrtspflege segelt derzeit in rauer See. Und das nicht nur wegen der harten Kämpfe um die Verteilung<br />

des – immer unzureichenden – Sozialbudgets. Oder – weil die Zahl der Unterstützungsbedürftigen stetig anwächst <strong>und</strong> droht, es zu überrollen.<br />

Der Wind bläst ihm auch entgegen, weil die Antworten ausbleiben auf Fragen der Qualitätskontrolle, der Konzepte, der Verteilungsgerechtigkeit,<br />

die das Schiff auf Kurs halten sollten <strong>und</strong> den Aktivitäten an Bord Sinn geben.<br />

Während sich ein Kurswechsel in Europa vollzieht, scheint das Wohlfahrtsschiff in Deutschland stur auf seiner Linie zu bleiben. Die<br />

Frage ist dabei offen, wohin die Reise gehen soll, wer künftig das Kommando führt <strong>und</strong> wer an Bord bleiben darf <strong>und</strong> will.<br />

Aber die Zeit geht zu Ende, in der die Wohlfahrtsverbände das Monopol auf Hilfeangebote <strong>für</strong> Menschen mit Behinderungserfahrung<br />

dazu nutzen, über deren Köpfe hinweg Unterstützung zu gestalten. Wenn <strong>Fürsorge</strong> glaubwürdig bleiben will, muss sie sich zu einer<br />

uneigennützigen Solidarität <strong>für</strong> Menschen mit Unterstützungsbedarf entschließen. Sie muss die Hilfeempfänger akzeptieren als Ko-<br />

Produzenten im Entwicklungsprozess des neuen Unterstützungssystems. Selbstbestimmung als Qualitätsmerkmal der Rehabilitation<br />

muss selbstverständlich werden, Kontrolle durch die K<strong>und</strong>en zur Ehrensache. Der eigentliche Prüfstein wird aber die tatsächliche<br />

Teilhabe der Menschen mit Behinderung sein.<br />

Wenn das Schiff so umgebaut wird, dass seine Passagiere mehr respektiert werden, kann es auf gutem Kurs fahren.<br />

Und was treibt es an? Die Wahrheit ist, Geld ist nicht alles, aber es verbessert die Lebensqualität, wenn man damit die individuell<br />

geeigneten Unterstützungen kaufen kann, <strong>und</strong> es hilft, die entsprechenden Dienste auf- <strong>und</strong> umzubauen.<br />

Wir sollten es wagen, das neue Steuerungsinstrument „Persönliches Budget“ als Chance, nicht als Hindernis zu betrachten. In den<br />

richtigen Händen wird es mithelfen, das Hilfesystem <strong>für</strong> Menschen mit Behinderungserfahrung so zu verändern, wie dies vom<br />

berühmten Frank Sinatra – den man auch „The Voice“ nennt – schon vor vielen Jahren <strong>für</strong> ein gelingendes Leben besungen wurde:<br />

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