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Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

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Für die Krankenkassen handelt es sich bei der Legasthenie nicht um ein medizinisches Problem, es gibt keine nachweislich hilfreiche<br />

medizinische Heilbehandlung <strong>und</strong> deshalb auch keine von Krankenkassen finanzierte Behandlung.<br />

Es gibt allerdings gute Lern- <strong>und</strong> Trainingsprogramme, auch solche, die von kinder- <strong>und</strong> jugendpsychiatrischen Kliniken entwickelt<br />

wurden, die nachweislich mit Erfolg in Schulen umgesetzt werden können.<br />

Und dorthin, nämlich in die Schulen, sollte man das Problem <strong>und</strong> seine Bearbeitung auch getrost zuückgeben. Das gelingt zwar selten<br />

in der gutachterbewehrten Einzelfallauseinandersetzung auf der örtlichen Ebene, hat aber durchaus Chancen in Form von <strong>Verein</strong>barungen<br />

mit Schulen <strong>und</strong> Kultusbehörde über geeignete Hilfeangebote im schulischen Rahmen.<br />

Als Leistungsträger hat die Jugendhilfe die Entscheidung zu treffen über die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft<br />

<strong>und</strong> damit das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung auf Hilfen nach § 35 a SGB VIII. Die Jugendhilfe hat auch die Federführung<br />

bei der Feststellung des Hilfebedarfs <strong>und</strong> der Hilfeplanung, in deren Prozess allerdings gemäß § 36 SGB VIII <strong>und</strong> entsprechend<br />

dem jeweiligen Hilfebedarf andere Personen <strong>und</strong> Institutionen mit einzubeziehen sind, im Falle der Störung schulischer Fertigkeiten in<br />

erster Linie die Schulen.<br />

2.4 Die Verschiebung der Abgrenzungsdiskussion von der Frage: seelisch behindert oder psychosozial benachteiligt? zu der<br />

Frage: seelisch behindert oder geistig <strong>und</strong>/oder körperlich behindert?<br />

Ein letztes Fallbeispiel:<br />

Jonathan ist das zweite von 3 Kindern einer allein erziehenden Mutter. Alle 3 Kinder haben verschiedene Väter, zu denen keinerlei<br />

Kontakt mehr besteht. Die Mutter klagt über Überforderung durch die Betreuung der 3 Kinder, kann aber ambulante Hilfeangebote nicht<br />

annehmen (Frühförderung, Familienhilfe).<br />

Jonathan ist in seiner Entwicklung deutlich verzögert. Anregung <strong>und</strong> Förderung erhält er zu Hause nicht. Notwendige Untersuchungs<strong>und</strong><br />

Behandlungstermine werden durch die Großmutter väterlicherseits wahrgenommen.<br />

Dabei wird eine partielle Mosaik-Trisomie 8 festgetellt mit leichten Missbildungen im Bereich der Genitalien <strong>und</strong> der Wirbelsäule. Die<br />

Prognose ist unbekannt, da die Verläufe bei den wenigen bekannten Fällen sehr unterschiedlich sind. Unklar ist u.a. der Einfluss der genetischen<br />

Störung auf die kognitive <strong>und</strong> emotionale Entwicklung. Auffällig ist Jonathan v.a. durch sein distanzloses, ungesteuertes Verhalten,<br />

wie es <strong>für</strong> vernachlässigte Kinder typisch ist.<br />

Der Besuch eines integrativen Kindergartens ganztags bringt deutliche Fortschritte in Jonathans Entwicklung. Bei der Einschulung<br />

liegen seine kognitiven Fertigkeiten im Bereich der Anforderungen einer Schule <strong>für</strong> Lernhilfe.<br />

Die Einschulung verschärft die häuslichen Erziehungsprobleme, <strong>und</strong> die Mutter stimmt jetzt einer Unterbringung von Jonathan in einer<br />

Pflegefamilie im Rahmen der Erziehungshilfe zu.<br />

In dieser sonderpädagogischen Pflegefamilie benötigt <strong>und</strong> erhält Jonathan viel Anleitung <strong>und</strong> Beaufsichtigung. Er lässt sich auf diese<br />

Weise gut lenken <strong>und</strong> wird von Pflegeeltern <strong>und</strong> -geschwistern gern gemocht. Er ist in ambulanter orthopädischer Behandlung wegen<br />

einer Spitzfußstellung <strong>und</strong> überzähliger Wirbel <strong>und</strong> geht einmal in der Woche zur Krankengymnastik.<br />

In der Schule wird er unterrichtet nach den Richtlinien der Schule <strong>für</strong> Lernhilfe <strong>und</strong> kommt gut mit. Häufig ist er ein eifriger Schüler,<br />

aber immer wieder fällt er auf durch ungesteuertes Verhalten <strong>und</strong> durch Wutausbrüche, wenn er frustriert ist. Die Schule hat deshalb eine<br />

Einzelbegleitung im Rahmen der Eingliederungshilfe <strong>für</strong> ihn beantragt.<br />

Aber das ist nicht der erste Gutachtenauftrag, den wir <strong>für</strong> Jonathan bearbeiten müssen: Seit 1999 werden wir jedes Jahr einmal vom<br />

Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes angefragt, ob Jonathans Probleme nicht alle im Zusammenhang stehen mit seinem<br />

genetischen Defekt <strong>und</strong> ob er deshalb nicht inzwischen doch eher dem Personenkreis des § 39 BSHG zuzuordnen ist <strong>und</strong> damit der<br />

Kostenträgerschaft des überörtlichen Sozialhilfeträgers.<br />

Und wenn es so wäre, wenn der genetische Defekt in diesem oder einem anderen Fall die Verhaltensprobleme mitbestimmen würde,<br />

wäre dann der Anspruch auf Erziehungshilfe verwirkt? Wäre dann die verminderte Steuerungsfähigkeit <strong>und</strong> die Bindungsstörung bei<br />

einem Kind wie Jonathan keine seelische Behinderung mehr?<br />

§ 1 Abs. SGB VIII lautet: Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung <strong>und</strong> auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen<br />

Persönlichkeit.<br />

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