Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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Normorientierung führte in dieser ersten Phase westdeutscher Familienpolitik, die auch als Familieninstitutionenpolitik bezeichnet<br />
wird, eher zu Thematisierung bzw. Nicht-Thematisierung von Familieninteressen in der Politik <strong>und</strong> nicht zu einer Konfrontation<br />
unterschiedlicher Handlungsoptionen in politischen Entscheidungssituationen <strong>und</strong> Verteilungskämpfen.<br />
Im Wechsel zur sozialliberalen Regierungszeit rüstete sich die Familienpolitik <strong>für</strong> den Aufbruch zur Gesellschaftspolitik. Beispiele im<br />
Recht: Ehe- <strong>und</strong> Scheidungsrechtsreform 1977, (1975 Reform § 218), Reform Elterlicher Sorge 1979. Der Familienlastenausgleich<br />
sollte sozial gerechter gestaltet werden, <strong>und</strong> zwar i.S. einer vertikalen Gerechtigkeit, d.h. einer auch sozialpolitisch motivierten<br />
Umverteilung. Kernstück der Reformen war die Kindergeldreform von 1975, die mit steigendem Einkommen stärker wirkende<br />
Freibeträge abschaffte <strong>und</strong> durch ein Kindergeld vom ersten Kind an ersetzte. Die Beträge reichten aber nicht, um die Kinderkosten<br />
angemessen zu kompensieren, wie das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in den 80er-Jahren wiederholt entschied.<br />
Fast „schleichend“ geschah – beginnend in den 70er-Jahren – aber olgendes:<br />
Die Familie, so wie sie als Leitbild konzipiert war, ging der Politik verloren <strong>und</strong> mit ihr ein Teil ihrer Leistungen. Alle Formen des<br />
Lebens mit Kindern haben erheblich abgenommen (1972 –1996 von ca. 72 % auf 56 %), Bevölkerungsanteile in Einpersonenhaushalten<br />
haben erheblich zugenommen (von 9,8 % auf 17 %). Ca. 29 % der 1960 geb. Männer <strong>und</strong> 20 % der Frauen werden ledig bleiben, die<br />
Scheidungswahrscheinlichkeit von 1973 geschlossenen Ehen liegt nach einer 25-jährigen Ehedauer bei 36,2 % (BMFSFuJ 2001a;<br />
B<strong>und</strong>esinstitut <strong>für</strong> Bevölkerungsforschung, bib 2000).<br />
Der Frauengeburtsjahrgang 1965 wird in Westdeutschland zu 30 % kinderlos bleiben. In Ostdeutschland sind die entsprechenden Zahlen<br />
in den 90er-Jahren rapide angestiegen, nachdem Kinderlosigkeit bis zur Einigung nur bei ca. 6 % der Frauen vorgekommen war, so dass<br />
auch hier immerhin 25 % der 1965 geborenen Frauen kinderlos bleiben werden (bib 2000: 14). Kinderlosigkeit ist in starkem Maße<br />
Qualifikationsabhängig. Während von den heute etwa 40-jährigen Frauen mit Hauptschulabschluss nur 21 % in einem kinderlosen<br />
Haushalt leben, sind dies bei Akademikerinnen 40 % (ebenda: 96).<br />
Tab.: Private Lebensformen der Bevölkerung im Alter von 25 bis 44 Jahren in Westdeutschland (Anteile in %)<br />
Lebensformen Altersgruppen<br />
25–29 J. 30–34 J. 35–44 J.<br />
ledige Kinder (im Elternhaushalt) 19,9 7,3 2,9<br />
allein Lebende, ledig 21,6 15,2 8,4<br />
allein Lebende, nicht mehr ledig 1,5 2,7 4,3<br />
verheiratet, ohne Kinder 12,5 12,2 11,0<br />
NLG*, ohne Kinder 12,3 6,8 3,4<br />
Ehepaare, mit Kindern 25,8 48,5 61,8<br />
NLG, mit Kindern 1,8 2,2 2,0<br />
allein Erziehende 2,4 3,6 4,9<br />
Sonstige 2,1 1,5 1,2<br />
insges. 100,0 100,0 100,0<br />
Quelle: B<strong>und</strong>esinstitut <strong>für</strong> Bevölkerungsforschung (bib) 2000: Bevölkerung. Fakten–Trends–Ursachen–Erwartungen. Wiesbaden.<br />
Internet-Version: www.bib-demographie.de/bibbroschuere.pdf.: 17<br />
*Nichteheliche Lebensgemeinschaften<br />
Der Standard-Lebensentwurf hat seine Gültigkeit verloren, verblieb aber dennoch lange Zeit Referenzgröße von Politik (u.a. daran zu<br />
erkennen, dass eine systematische familienorientierte Reform der sozialen Sicherungssysteme bis heute unterblieb). Die sich daraus<br />
ergebende Konsequenz: Es kam zu einer Zweiteilung der Bevölkerung. Wir können heute einen „Familien-Sektor“ in der Bevölkerung<br />
identifizieren, der zwei Drittel ausmacht, <strong>und</strong> einen „Nicht-Familien-Sektor“ im Umfang eines Drittels <strong>und</strong> mit wachsender Tendenz.<br />
Familie ist dabei als Trägerin unverzichtbarer volkswirtschaftlicher Wohlfahrtsproduktion zu verstehen.<br />
Der in Form externer Effekte <strong>für</strong> die Gesellschaft wirksam werdende Output u.a. der „Haushaltsnutzenfunktionen“ kann, ja muss eine<br />
Neuausrichtung des familienpolitischen Diskurses vom Familienlasten- zum Familienleistungsausgleich4 begründen.<br />
Familienpolitik wurde in Deutschland zuvor lange Zeit wertrational, weniger zweckrational begründet. Familienleistungen sind aber<br />
mit dem Wirksamwerden der Prinzipien der „Zweiten Moderne“ von allgemeinen, quasi im Standard-Lebensentwurf vorgegebenen, zu<br />
optionalen Leistungen geworden. Wir bewegen uns auf ein Verhältnis von einem Drittel Kinderloser zu zwei Dritteln Familien in der<br />
Bevölkerung zu. Das gegenwärtige Verhältnis der Haushalte, in denen Kinder leben, gegenüber denen ohne Kinder ist schon das von<br />
einem Drittel zu zwei Dritteln.<br />
Dies bedarf insbesondere vor dem Hintergr<strong>und</strong> des zunehmend optionalen Charakters von Familiengründung eines systematischen<br />
Ausgleiches zwischen den Bevölkerungsteilen, die Familienarbeit leisten, <strong>und</strong> solchen, die – aus welchen Gründen auch immer – dies<br />
nicht tun, aber dennoch von ihr profitieren.<br />
4) Es hat sich in der Politik zwar eingebürgert, seit der Einführung des „Optionsmodells“ im Jahr 1996 von einem Familienleistungsausgleich zu sprechen. Diese Formulierung<br />
wäre aber erst dann gerechtfertigt, wenn ein vollständiger Ausgleich der von Familien produzierten externen Effekte zu verzeichnen wäre; davon ist der gegenwärtige<br />
Familienlastenausgleich noch weit entfernt.<br />
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