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Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

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4. Untersuchungshaft, § 72 JGG<br />

Zwar bildet die Untersuchungshaft keine jugendstrafrechtliche Sanktion, sondern dient allein der Verfahrenssicherung. Sie stellt aber<br />

eine Freiheitsentziehung dar <strong>und</strong> ihre Anwendung in der Praxis lässt vermuten, dass ihr entgegen ihrem gesetzlichen Zweck in der Praxis<br />

ein sanktionsähnlicher Charakter zukommt.<br />

Die Anordnung von Untersuchungshaft bei Jugendlichen ist problematisch <strong>und</strong> sollte bereits nach dem Wortlaut des Gesetzes soweit<br />

wie möglich vermieden werden. Sie dient der Verfahrenssicherung <strong>und</strong> ihre Anordnung richtet sich nach den Vorschriften der StPO.<br />

Nach § 112 StPO setzt die Anordnung von Untersuchungshaft voraus, dass<br />

1. der Täter einer Straftat dringend verdächtig ist,<br />

2. ein Haftgr<strong>und</strong> besteht,<br />

3. die Anordnung nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache <strong>und</strong> der zu erwartenden Sanktion steht.<br />

Haftgründe sind Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr sowie der Verdacht eines Kapitaldelikts.<br />

Über diese allgemeinen Haftvoraussetzungen gelten im Jugendstrafrecht noch besondere gesetzliche Hürden. Nach § 72 I JGG darf Untersuchungshaft<br />

bei Jugendlichen nur angeordnet werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine andere Maßnahme erreicht werden kann. Zu solchen<br />

Maßnahmen zählen etwa die Annahme einer Lehrstelle oder die Unterbringung in einer geeigneten Familie oder einer betreuten Wohngruppe.<br />

27 Im Haftbefehl ist zu begründen, warum eine solche Maßnahme im Einzelfall nicht ausreicht. Bei 14- <strong>und</strong> 15-jährigen Tatverdächtigen ist<br />

der (praktisch häufigste) Haftgr<strong>und</strong> der Fluchtgefahr nur dann anzunehmen, wenn sich der Jugendliche dem Verfahren bereits entzogen hat<br />

bzw. Anstalten zur Flucht getroffen hat oder wenn er in Deutschland keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat.<br />

Auch wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls vorliegen, kann die einstweilige Unterbringung des Jugendlichen in einem Heim der<br />

Jugendhilfe angeordnet werden (§ 74 IV JGG). Schließlich ist das Verfahren bei Anordnung von Untersuchungshaft mit besonderer Beschleunigung<br />

durchzuführen (§ 74 V JGG).<br />

Der Gesetzgeber will die Untersuchungshaft bei Jugendlichen also auf die wenigen unvermeidbaren Fälle reduzieren. Die Praxis sieht<br />

dagegen anders aus: Insgesamt – mit Abweichungen in manchen B<strong>und</strong>esländern – ist die Untersuchungshaftrate (bezogen auf die Zahl<br />

der Verurteilten) nach Jugendstrafrecht höher als nach Allgemeinem Strafrecht. 28 Relativ mehr der nach Jugendstrafrecht Verurteilten<br />

waren somit in Untersuchungshaft als nach Erwachsenenstrafrecht Verurteilte. Die gesetzgeberische Vorgabe einer besonders<br />

schonenden Anwendung der Untersuchungshaft bei Jugendlichen <strong>und</strong> Heranwachsenden wird damit in der Praxis nicht umgesetzt. Für<br />

Hamburg, das eine besonders hohe Untersuchungshaftrate aufweist, ist bekannt, dass nicht selten auf die Untersuchungshaft eine<br />

informelle Erledigung des Verfahrens oder die Verurteilung zu einer ambulanten Sanktion folgt. 29 Dies liegt daran, dass Untersuchungshaft<br />

in der jugendjustiziellen Praxis noch immer als Ersatz <strong>für</strong> eine kurzfristige Jugendstrafe (die ja erst ab 6 Monaten zu<br />

verhängen ist) bzw. als „Einstiegs- bzw. Warnschussarrest“ angewendet wird. 30<br />

IV. Die Entwicklung der Sanktionspraxis<br />

Die Geschichte des Jugendgerichtsgesetzes ist die Geschichte der Zurückdrängung formeller <strong>und</strong> stationärer Sanktionierung. Die<br />

Zurückdrängung formeller Reaktionen zeigt sich an dem stetigen Anstieg der Diversionsrate seit Beginn der 80er-Jahre. Lag diese Rate<br />

der Erledigung von Jugendstrafsachen ohne Urteil 1981 noch bei 44 %, erreichte sie 1999 69 % (siehe Schaubild 1).<br />

27) Schaffstein/Beulke, S. 269.<br />

28) Heinz in Dölling (Hrsg.): Jugendstrafrecht an der Wende, 2001, S. 84.<br />

29) Pfeiffer/Brettfeld/Delzer, S. 61 ff.<br />

30) Dünkel/Lang, S. 23.<br />

31) Schaubilder 1–3 aus Heinz (http://www.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks99.htm). Herzlichen Dank an Herrn Gerhard Spieß <strong>für</strong> die Aufbereitung der Schaubilder <strong>für</strong><br />

Vortrag <strong>und</strong> Text.<br />

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