Workshop 1.6 - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
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Ausgehend von den hier zusammengetragenen Erfahrungen wurde das Konzept der ‚Kontaktstelle <strong>für</strong> Selbsthilfegruppen’ (oder<br />
‚Selbsthilfe-Kontaktstelle’) als eigenständiger Fachdienst entwickelt, wo alle Interessierten (Betroffene wie Fachleute) Themen übergreifend<br />
Information <strong>und</strong> Beratung in Sachen Selbsthilfegruppen finden können (vgl. Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen<br />
2001). Bereits im Jahre 1987 wurde von der B<strong>und</strong>esregierung ein Modellprogramm ins Leben gerufen, in dem an 18 Standorten<br />
die Arbeits- <strong>und</strong> Wirkungsweise solcher Kontaktstellen erprobt wurde (vgl. Braun et al. 1997). Die wissenschaftliche Begleitforschung<br />
ergab, daß sich in Regionen mit solchen Kontaktstellen mehr Selbsthilfegruppen bilden, sich ihnen mehr Menschen anschließen <strong>und</strong><br />
sie stabiler arbeiten können. Kontaktstellen sind demnach der Königsweg einer wohnortnahen Förderung des Selbsthilfegruppen-Engagements<br />
der Bevölkerung durch eine unterstützende Infrastruktur <strong>und</strong> fachliche Beratung. Der Deutsche <strong>Verein</strong> <strong>für</strong> <strong>öffentliche</strong> <strong>und</strong> <strong>private</strong><br />
<strong>Fürsorge</strong> veröffentlichte 1998 entsprechende Empfehlungen zur Selbsthilfeförderung auf kommunaler Ebene (<strong>Deutscher</strong> <strong>Verein</strong> 1998).<br />
Selbsthilfe als Korrektiv<br />
Zunächst einmal hat die Selbsthilfe in den vergangenen Jahrzehnten millionenfach dazu beigetragen, daß einzelne Menschen bzw.<br />
deren Familien mit Krankheiten <strong>und</strong> Krisen besser fertig geworden sind. Von gleichermaßen Betroffenen, vor allem von erfahrenen<br />
Veteranen, hat man sich Rat geholt, wie sich ein Leben mit einer chronischen Erkrankung oder dauerhaften Behinderung gestalten lässt.<br />
Dabei geht es z. T. um unmittelbar medizinische Fragen, etwas zu Möglichkeiten der Diagnostik, Therapie, Rehabilitation <strong>und</strong> Pflege.<br />
Zum anderen aber um soziales, psychologisches <strong>und</strong> teilweise auch rechtliches Wissen, um Fragen der Teilhabe am beruflichen, gesellschaftlichen<br />
<strong>und</strong> kulturellen Leben. Und schließlich geht es um Einflussnahme auf die ges<strong>und</strong>heitliche Versorgung, auf Strukturen <strong>und</strong><br />
Methoden insgesamt. Dabei wird die Einmischung sicherlich oft von Unzufriedenheit <strong>und</strong> Protest angetrieben, daneben aber auch von<br />
dem Bedürfnis, zur Qualität <strong>und</strong> Menschlichkeit unseres Ges<strong>und</strong>heitssystems beizutragen.<br />
Korrektur, oder sagen wir besser: Einflußnahme läßt sich also auf drei Ebenen feststellen: Erstens auf die Beziehung des Betroffenen<br />
zu seiner Erkrankung, seinem Schicksal, seinem weiteren Lebensweg (Krankheitseinsicht, Krankheitsverarbeitung, Coping etc.); zweitens<br />
auf die Beziehung des Betroffenen zu seinen jeweiligen Behandlern (‚Arzt-Patient-Beziehung’, ‚mündiger Patient’, ‚informed<br />
consent’ etc.); drittens auf die Beziehung zwischen dem Kollektiv der zu Versorgenden <strong>und</strong> dem Versorgungssystem insgesamt (Partizipation,<br />
Patientenrechte, Qualitätssicherung etc.).<br />
Die Selbsthilfe sollte jedoch, was ihre ‚Korrektiv-Funktion’ angeht, nicht mit allzu ho-hen Erwartungen überfrachtet werden. Zwar<br />
wird sie gelegentlich schon als „vierte Säule“ unseres Ges<strong>und</strong>heitswesens (neben den Praxen der niedergelassenen Ärzte, den meist<br />
kommunalen oder freigemeinnützigen Krankenhäusern <strong>und</strong> dem <strong>öffentliche</strong>n Ges<strong>und</strong>heitsdienst) bezeichnet (vgl. Matzat 2002), aber<br />
in Wirklichkeit ist sie doch (noch) sehr fragil <strong>und</strong> unterstützungsbedürftig. Nichtsdestoweniger wird sie gelegentlich mit „unsittlichen<br />
Anträgen“ belästigt. Sie soll <strong>für</strong> andere die Kohlen aus dem Feuer holen, soll Versorgungslöcher stopfen, dringend notwendige professionelle<br />
Dienstleistungen ersetzen oder lobbyistische Anliegen anderer Akteure unterstützen. Es würde der Sache nicht gerecht, wenn<br />
Selbsthilfe z.B. von Krankenkassen vor allem aus Marketing-Erwägungen gefördert würde, wenn Kliniken sich ‚ihre Selbsthilfegruppen<br />
halten’ würden, um darüber an Sponsorengelder zu kommen, wenn Pharmafirmen die Finanzschwäche der Selbsthilfe ausnutzten,<br />
um bei den ‚Endverbrauchern’ ihrer Produkte Werbung zu betreiben, wenn Ärzteverbände versuchen würden, Selbsthilfegruppen <strong>und</strong><br />
Selbsthilfeorganisationen <strong>für</strong> standespolitische Ziele auf die Straße zu schicken, wenn Gerätehersteller die Selbsthilfe als Vertriebsweg<br />
missbrauchen würden, wenn Politik <strong>und</strong> Verwaltung Selbsthilfe als einen ‚billigen Jakob’ der psychosozialen <strong>und</strong> medizinischen Versorgung<br />
einsetzen wollten, wenn Krankenhäuser ihre Bettenbelegungsprobleme durch Einladungen an Selbsthilfe-gruppen zu lösen<br />
versuchten. All dies, so hört man, sei schon vorgekommen – Einzelfälle, vielleicht auch nur Be<strong>für</strong>chtungen. Auf schwarze Schafe <strong>und</strong><br />
Unterwanderungsversuche müssen alle Wohlmeinenden ein Auge haben, vor allem die Selbsthilfe selber, im ureigensten Interesse.<br />
Aber solche Einzelfälle dürfen nicht <strong>für</strong> pauschale Verdächtigungen der Selbsthilfe mißbraucht werden!<br />
Perspektiven der Selbsthilfe<br />
1) Die Stabilisierung dieser ‚vierten Säule’ unseres Ges<strong>und</strong>heitswesens ist allem Anschein nach gesellschaftlicher Konsens. Alle sind<br />
da<strong>für</strong>, niemand (öffentlich) dagegen, <strong>und</strong> Gesetzestexte (§20, 4, SGB V, §29 SGB IX) mahnen Aktivitäten an. Allerdings hapert es<br />
noch vielfach an der Umsetzung, vor allem bei einigen Krankenkassen <strong>und</strong> anderen Reha-Trägern. Mitunter begegnet man boykottartigen<br />
Verweigerungen <strong>und</strong> Verzögerungen, <strong>und</strong> überall herrscht fachliche Unsicherheit, was sinnvoller Weise konkret zu tun sei.<br />
Durchaus verständlich, denn Selbsthilfe-Förderung war <strong>für</strong> viele Beteiligte völlig neu <strong>und</strong> fremd, in den Aus- <strong>und</strong> Fortbildungen<br />
nicht gelehrt <strong>und</strong> von den eigenen Vorgesetzten offenbar gering geschätzt. Keine gute Voraussetzung <strong>für</strong> Motivation <strong>und</strong> Kooperation.<br />
Der Gesetzgeber muß dringend da<strong>für</strong> sorgen, daß diese Pflichtaufgabe (auch wenn sie ungeliebt <strong>und</strong> nicht ganz einfach zu lösen<br />
ist) angemessen wahrgenommen wird. Pauschalzuschüsse zum Erhalt <strong>und</strong> zum Ausbau von Unterstützungsstrukturen (vor allem<br />
Selbsthilfe-Kontaktstellen vor Ort <strong>und</strong> b<strong>und</strong>esweite Selbsthilfeorganisationen) haben dabei unbedingt Vorrang. Die Selbsthilfe - <strong>und</strong><br />
das heißt hier ja: diese besondere Art von Experten! - muß selber die Freiheit haben, den sinnvollen Einsatz der ohnehin bescheidenen<br />
Mittel zu be-stimmen. Die Beratung mit Selbsthilfe-Fachleuten sollte von den Verantwortlichen in den Versicherungssystemen<br />
im eigenen Interesse (bzw. in dem ihrer Versicherten!) viel stärker gesucht werden als bisher. Die Selbsthilfe wartet seit Jahren auf<br />
ernst gemeinte Einladungen zum Dialog. Erfreulicherweise wurden einige in jüngster Zeit ausgesprochen, z.B. von einigen Krankenkassen<br />
<strong>und</strong> Ärzteverbänden.<br />
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