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Jahresbericht 2001/2002 - Fritz Thyssen Stiftung

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59<br />

GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN<br />

Im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens steht die arabische intellektuelle<br />

,Renaissance‘ des neunzehnten Jahrhunderts – al-nahda alarabiyya<br />

– wie sie sich unter den gesellschaftlichen, kulturellen und<br />

räumlichen Bedingungen in den syrischen Provinzen des osmanischen<br />

Reiches ausgebildet hat. Der Streifzug des Kolonialismus –<br />

zunächst auf den Schleichpfaden der jesuitischen und protestantischen<br />

Missionare, im späten neunzehnten Jahrhundert dann durch<br />

infrastrukturelle Großprojekte, hat die Intellektuellen in den syrischen<br />

Provinzen direkt zu Beginn ihrer gesellschaftlichen Ausbildung<br />

in einen Diskurs der kulturellen Selbstbehauptung gezwängt.<br />

Dabei bildeten sich früh unterschiedliche Trends, die heute noch<br />

grundlegend bestehen: Säkularismus, Konstitutionalismus, Gesellschaftsliberalismus,<br />

Nationalismus und Islamismus entwickelten sich<br />

auch im Kontext intensiver geistiger wie physischer Urbanisierung<br />

und Osmanisierung. Osmanischer Imperialismus und die zunehmende<br />

Verstädterung führten zunächst vor allem zu der Propagierung<br />

einer neuen öffentlichen Moral. Insbesondere nach den Unruhen<br />

in Aleppo und Nablus (1856) sowie den Bürgerkriegen in Damaskus<br />

und im Libanongebirge (1860) kristallisierten sich neue Identitäten<br />

und eine neue Individualität heraus, die intellektuelle Eliten<br />

wie Butrus al-Bustani versuchten, zu einem gesellschaftlichen<br />

Ganzen zu schmieden.<br />

Ein eng-gestricktes Netzwerk von Literaten, Journalisten und Erziehern<br />

zwischen Istanbul, Damaskus, Beirut und Kairo versuchte vor<br />

dem doppelten Hintergrund des europäisch-religiösen Missionarsund<br />

Wirtschaftskolonialismus und der eigenen „schmachvollen“ jüngeren<br />

Vergangenheit Entwürfe zu einer neuen, besseren Gesellschaftsordnung<br />

zu entwickeln. Dabei haben zunächst sowohl die<br />

muslimischen als auch die christlichen Intellektuellen dem osmanischen<br />

Staat das Vertrauen ausgesprochen, diese beiden Missstände<br />

zu überwinden.<br />

Erste Erkenntnisse dieses Forschungsprojekts haben gezeigt, dass<br />

ganz besondere Bedeutung in den Städten Bilad al-Shams der Jugenderziehung<br />

beigemessen wurde. So hat Butrus al-Bustani 1863 ein überkonfessionelles<br />

Kolleg gegründet, in dem im ersten Jahr gut 100<br />

Schülern aller noch drei Jahre zuvor verfeindeten Konfessionen religiöse<br />

Toleranz und arabisches Kulturgut unterrichtet wurde. Im Weiteren<br />

ist die Studie dabei, das intellektuelle und politische Schaffen<br />

der Lehrer und, in einer Reihe von Fällen, auch der Schüler zu untersuchen.<br />

Die Biographien dieser Menschen sollen in Beziehung zur allgemeinen<br />

arabischen Ideengeschichte gesetzt werden. Dies geschieht<br />

jedoch mit strengem Bezug auf die ursprünglich gestellten Fragen:<br />

– inwieweit der geistige Transformationsprozess während der<br />

Nahda als Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse der Bürgerkriege<br />

zu beziehen ist,<br />

– in welchem Verhältnis die alternativen Visionen der Intellektuellen<br />

zu der osmanischen Gesellschafts- und Staatsordnung stehen,

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