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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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dieser Spannung bewegt sich der Forschungsprozeß. Bei der Entstehung der Vermutung<br />

läßt sich - dies wird im <strong>Marxismus</strong> klar gesehen - der Begriff der Intuition nicht umgehen.<br />

Ohne Erfindungsgeist, ohne Kreativitat kann man nichts als mechanische Operationen<br />

hervorbringen. Die Intuition komme jedoch nicht aus dem Nichts, habe nichts Mystisches<br />

an sich; lange Suche gehe ihr voran, der Funke entstehe nach langer Reibung. Nur die<br />

Plötzlichkeit der Eingebung erzeuge den Schein einer übernatürlichen Erleuchtung, von<br />

der jedoch nicht die Rede sein dürfe.<br />

Alle Überlegungen zur Dialektik des Erkenntnisprozesses machen die hervorragende<br />

Bedeutung der Methodenfrage deutlich. Hegel nannte die Methode das Bewußtsein über<br />

die Selbstbewegung des Inhalts, lehnte es also ab, das Methodenproblem bloß formal zu<br />

betrachten. Darin wird er <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong> vorbildlich, dem es immer wieder um den<br />

inneren Zusammenhang der verschiedenen von der Wissenschaft angewandten Methoden<br />

geht. Die wissenschaftliche Methode stellt dabei nur dasjenige in entwickelter Gestalt<br />

dar, „was in einfacher Form jeder Mensch anwendet“. 28<br />

Das Wissen entwickelt sich auf der Gr<strong>und</strong>lage der praktischen Tätigkeit <strong>und</strong> „dient ihr,<br />

insofern sie Urbilder möglicher <strong>und</strong> dem Menschen notwendiger Dinge <strong>und</strong> Prozesse<br />

schafft. Deshalb muß sich das Wissen letztlich als praktisch realisierbar erweisen.“ 29 Dazu<br />

muß es die entsprechende Form erlangen, muß zur Idee werden, worunter man mit Hegel<br />

einen Gedanken versteht, „der die höchste Stufe von Objektivität, Vollständigkeit <strong>und</strong><br />

Konkretheit erlangt hat <strong>und</strong> gleichzeitig auf praktische Realisierung zielt.“ 30 In diesem<br />

Sinne könne man von der Idee der sozialistischen Revolution, der Idee der Eroberung<br />

des Weltraums usw. sprechen. Zur Realisierung einer Idee bedürfe es nicht nur der materiellen<br />

Mittel, sondern auch der Emotion <strong>und</strong> des Willens. Die Überzeugtheit von der<br />

Wahrheit einer Idee, der Notwendigkeit <strong>und</strong> realen Möglichkeit ihrer Realisierung spiele<br />

<strong>für</strong> die Motivation des Handelnden eine große Rolle. Auf bloßen Dogmenglauben hin, so<br />

kann man lesen, entsteht nicht jene innere Begeisterung <strong>und</strong> persönliche Überzeugtheit,<br />

ohne die nichts Großes in der Welt vollbracht wird. 31 Wahre Worte!<br />

Die Fruchtbarkeit einer Idee stelle sich erst im Prozeß ihrer Vergegenständlichung<br />

heraus. Andererseits werde aber auch zurecht das Bestehende <strong>und</strong> bisher praktisch Erreichte<br />

an der Idee gemessen, das was ist, an dem, was sein soll, wobei immer zu fragen<br />

sei, ob die Nichtidentität von Realität <strong>und</strong> Idee den Unreife der Bedingungen, der mangelhaften<br />

Ausarbeitung der Idee oder anderen Faktoren geschuldet sei. Die Praxis verwirkliche<br />

die Ziele, die sich der Mensch aus seiner Rationalität heraus setze, habe aber<br />

auch ein nichtrationales Moment an sich: Es entsteht Neues, an das niemand gedacht<br />

hat, unerwünschte Nebeneffekte technischer Praxis in Form von Umweltbelastungen<br />

etwa, die die Menschen erst wieder beherrschen lernen müssen. Auch gehe das Denken<br />

über die bestehenden logischen Formen immer wieder hinaus <strong>und</strong> bewirke dadurch eine<br />

Entwicklung des Logischen.<br />

In ihrer praktischen Bedeutung <strong>für</strong> den Menschen sind die Dinge „Güter“ oder „Werte“.<br />

Man darf nach marxistischer Auffassung Erkennen <strong>und</strong> Werten bei aller Gegensätzlichkeit<br />

nicht gänzlich auseinanderreißen, denn sie sind zwei Seiten einer Medaille.<br />

Man weist darauf hin, daß Erkenntnisresultate nicht nur nach gnoseologischen Kriterien<br />

wie wahr, falsch, wesentlich, unwesentlich, wahrscheinlich, zuverlässig usw. eingeschätzt<br />

werden. Es wird auch nach dem Nutzen <strong>für</strong> den einzelnen <strong>und</strong> die Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> nach der Anwendbarkeit gefragt, danach, welche geistig-sittlichen Bedürfnisse durch<br />

sie befriedigt werden.<br />

Das Erkennen, so wird gesagt, strebe nach Herausarbeitung der Wahrheit in reiner<br />

Form, nach Widerspiegelung der Gegenstände, wie sie außerhalb von uns existieren,<br />

während beim wertenden Verhältnis zur Wirklichkeit die Beziehung der Gegenstände<br />

zum Menschen in den Mittelpunkt gerückt wird: es spiele eine entscheidende Rolle vor<br />

allem im moralischen <strong>und</strong> künstlerischen Bereich. Natürlich setze das Werturteil voraus,<br />

daß man einen gewissen Erkenntnisbegriff von der zu bewertenden Sache hat. 32<br />

Die marxistische Auffassung des Verhältnisses von Erkennen <strong>und</strong> Werten hat vor allem<br />

deshalb immer wieder Anstoß erregt, weil sie unmittelbar politische Bedeutung gewonnen<br />

hat in der These von der Notwendigkeit proletarischer Parteilichkeit der Theorie,<br />

vom „Klassenstandpunkt“, ohne den es keine Objektivität <strong>und</strong> Wahrheit gebe. Die Kritiker<br />

28<br />

Konst., S. 236.<br />

29<br />

ibd. 230.<br />

30<br />

ibd.<br />

31<br />

ibd. 230f.<br />

32<br />

S. a. MEW Erg.bd. 1, S. S38.<br />

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