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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Kern zu treffen: die Aufhebung des spekulativ-idealistischen Ich-Begriffs bleibt abstrakt,<br />

weil ihr die Realität des Ich verlorenging, nicht „aufbewahrt“ wurde. Steiners Individualismus<br />

ist durchaus nicht die Marxsche Einsicht vom Menschen als dem Wesen, das nur in<br />

Gesellschaft sich vereinzeln kann, entgangen 41 : Aber er insistiert darauf, daß nur freie<br />

Persönlichkeiten zur wahrhaften Gemeinschaftsbildung - im Gegensatz zur bloßen Herdenbildung<br />

- imstande sind. Sozialität ist Anerkennung des Ich im anderen: Die Leugnung<br />

des Ich mit sozialistischen Argumenten hebt mit dem Ich den Sozialismus auf. Gemeinschaftlichkeit<br />

<strong>und</strong> Kollektivität sind nicht dasselbe: In agierenden Massen kann der einzelne<br />

u.U. sehr wenig Subjekt, d.h. seiner mächtig sein, in hohem Maße dagegen von<br />

rauschhaften Zuständen bewegt sein. Die Schwäche des <strong>Marxismus</strong> in der Kardinalfrage<br />

der Persönlichkeitsauffassung spricht Sartre an, wenn er feststellt, daß man die Spezifik<br />

der Persönlichkeit eines Flaubert eben nicht aus seiner allgemeinen bürgerlichen Klassensituation<br />

ableiten kann. 42 Schließlich wird eben nicht jeder bürgerliche Intellektuelle<br />

Flaubert. Wenn nicht in der Theorie, so ist der <strong>Marxismus</strong> doch in seiner Praxis immer<br />

wieder auf dieses Problem gestoßen: Warum jemand im KZ unter Einsatz seines Lebens<br />

dem Kameraden das Leben rettet, weiß ich eben nicht (allein) dadurch, daß ich seine<br />

Klassen- <strong>und</strong> Parteizugehörigkeit kenne, weiß, welche politischen <strong>und</strong> sonstigen Erfahrungen<br />

er gemacht hat. Das Leben zeigt, daß Menschen, die in dieser Hinsicht über annähernd<br />

gleiche Voraussetzungen verfügen, sich doch in „Grenzsituationen“ unterschiedlich<br />

verhalten. Warum wird der eine Arbeiter ein Revolutionär, während ein anderer sein<br />

ganzes Lebensglück in der Pflege eines Schrebergärtchens erblickt? Der Existentialismus<br />

hat sich diesem Problem mit der Kategorie der Grenzsituation <strong>und</strong> der Frage nach<br />

der Echtheit <strong>und</strong> „Eigentlichkeit“ der subjektiven Handlungsantriebe nähern wollen, ohne<br />

dieser Eigentlichkeit jedoch einen wirklichen Inhalt geben zu können: die Individualität<br />

bleibt der ewig unerklärliche Rest, dessen Sinn sich dem Denken, das doch die Sinnfrage<br />

stellen muß, permanent entzieht.<br />

Steiner dagegen will sich der Mystifikation jenes „Surplus“, den ein Mensch über Erbanlagen<br />

<strong>und</strong> Milieuprägung hinaus darstellt, durch den Reinkarnationsgedanken entziehen:<br />

Sowenig wie man eine Tierart aus dem Nichts entstanden denken kann, sosehr man<br />

sie als durch Evolution hervorgebracht ansehen muß, in demselben Maße kann die Individualität<br />

in ihrer gegebenen Gestalt nur als das Ergebnis der Evolution ihrer Vorformen<br />

angesehen werden. Dieser Zusammenhang muß aber ein immanenter sein, ein Zusammenhang<br />

der Individualität mit sich selbst: die Individualität kann nur durch Selbstentstammung<br />

entstanden gedacht werden: „Als ein gefährlicher Ketzer galt der tonangebenden<br />

Weisheit des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts der italienische Naturforscher Francesco Redi, weil er<br />

behauptete, daß auch die niederen Tiere durch Fortpflanzung entstehen. Nur mit knapper<br />

Not entging er dem Märtyrerschicksal Giordano Brunos <strong>und</strong> Galileis [...] Nichts anderes<br />

hatte Redi behauptet, als was heute allgemein anerkannt ist, daß alles Lebendige von<br />

einem Lebendigen abstamme.“ „In einer ähnlichen Lage wie der italienische Denker ist<br />

heute der Anthroposoph. Er muß auf Gr<strong>und</strong> seines Wissens das von dem Seelischen<br />

sagen, was Redi von dem Lebendigen gesagt hat. Er muß behaupten: Seelisches kann<br />

nur aus Seelischem entstehen. Und wenn die Naturwissenschaft in derselben Richtung<br />

sich weiterbewegt, die sie seit dem 17. Jahrh<strong>und</strong>ert genommen hat, dann wird auch die<br />

Zeit kommen, in der sie selbst - aus sich heraus - diese Anschauung vertreten wird.“ 43<br />

Die Verketzerung greife zwar heute nicht mehr zum Mittel des Scheiterhaufens, sondern<br />

behelfe sich mit der öffentlichen Diskreditierung des Gegners als Schwarmgeist <strong>und</strong><br />

Wirrkopf. „Daß die Seele geistige Eigenschaften habe, wie der Wurm physische“, führe<br />

heute noch nicht dazu, „an die eine Tatsache mit derselben Forschergesinnung heranzutreten<br />

wie an die andere [...] Gewiß: es wird zur Not zugegeben, daß auch die seelischen<br />

Eigenschaften eines Menschen geradeso irgendwoher stammen müssen wie die physischen.<br />

Es werden Erwägungen darüber angestellt, wie es denn komme, daß sogar Zwillinge<br />

in wesentlichen Eigenarten voneinander abweichen, die stets an demselben Orte,<br />

unter der Obhut einer Amme, gewesen sind. Man führt wohl auch gelegentlich an, daß es<br />

von den siamesischen Zwillingen heißt, ihre letzten Lebensjahre wären infolge ihrer entgegengesetzten<br />

Sympathien im nordamerikanischen Bürgerkriege recht unbehaglich<br />

gewesen.“<br />

„Es ist zweifellos berechtigt, wenn man zur Erklärung der niederen seelischen Eigenschaften<br />

zu den physischen Vorfahren hinaufsteigt <strong>und</strong> ebenso von Vererbung spricht,<br />

193<br />

41 Marx, Gr<strong>und</strong>risse, S. 6.<br />

42 Sartre 1964, 49ff., 112ff.<br />

43 GA 34, S. 67ff. Dort auch die weiteren Zitate.

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