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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Immerhin, die Anerkennung der Immaterialität von Bewußtseinserscheinungen bedeutet<br />

auch Einsicht in die Notwendigkeit einer besonderen Wissenschaft vom Bewußtsein,<br />

die mehr ist als Physiologie der höheren Nerventätigkeit. Der sowjetische Philosoph Tugarinow<br />

schreibt: „Wir wissen besser über die Vorgänge in den Tiefen der Sonne Bescheid<br />

als über Prozesse unseres Unterbewußtseins <strong>und</strong> sogar unseres Bewußtseins.“ 9<br />

Trotz der zur Schau gestellten Sicherheit in bezug auf den Status des Bewußtseins gegenüber<br />

der Materie, ist man sich also durchaus bewußt, daß eine Wissenschaft vom<br />

Bewußtsein in hohem Maße erst noch zu entwickeln ist. Diese Wissenschaft hat vor allem<br />

— nach marxistischer Auffassung — davon auszugehen, daß das Bewußtsein nicht bloß<br />

durch physiologische, sondern auch durch sozialhistorische Komponenten bedingt ist: es<br />

denkt nicht ein Hirn an sich, sondern Hirne von Individuen, die durch die jeweilige Sozialisation<br />

geprägt sind.<br />

Die Formulierung, das Bewußtsein stelle „ein in sich geschlossenes System verschiedener,<br />

jedoch eng miteinander verb<strong>und</strong>ener bewußter, emotionaler <strong>und</strong> durch den Willen<br />

gesteuerter Elemente“ 10 dar, läßt an die auf Nikolaus Tetens zurückgehende Unterscheidung<br />

der drei „Seelenvermögen“ Denken, Fühlen <strong>und</strong> Wollen denken, die also nicht, wie<br />

im „Behaviorismus“, einfach als empirisch gehaltlos verworfen wird. Bewußtsein entsteht<br />

durch Wissensgewinnung: das Wissen ist seine Existenzweise. Dem Bewußtsein sind<br />

andere, unbewußte Formen der Widerspiegelung vorgelagert. Das Spektrum des Unbewußten<br />

sei sehr breit <strong>und</strong> umfasse Instinkte, Gewohnheiten, Intuition <strong>und</strong> Einstellungen,<br />

aber auch nicht bewußt registrierte Eindrücke. Nach einer Periode der Freud-Verfemung<br />

rechnet man dem Vater der Psychoanalyse heute auch in der Sowjetunion als Verdienst<br />

an, daß er das Unbewußte erstmals zum Forschungsgegenstand gemacht habe.<br />

Zugleich kreidet man ihm an, er habe dieses Unbewußte, besonders die Rolle des Sexualtriebes,<br />

überschätzt: Ein solcher irrationalistischer Biologismus sei dem <strong>Marxismus</strong><br />

wesensfremd, <strong>für</strong> den Verstand <strong>und</strong> Wachbewußtsein das entscheidende Prinzip der<br />

menschlichen Persönlichkeit ausmache, das sie gegenüber dem Tier auszeichne.“ 11<br />

Innerhalb des Wachbewußtseins können die Ebenen der Empfindung bzw. Wahrnehmung,<br />

der Vorstellung <strong>und</strong> des begrifflichen Denkens unterschieden werden. Die Empfindung<br />

gilt dabei als unmittelbares Abbild gegenwärtig auf die Sinnesorgane einwirkender<br />

Objekte, die Wahrnehmung soll nicht nur einzelne Eigenschaften, sondern Dinge in der<br />

Totalität ihrer den Sinnen zugänglichen Merkmale widerspiegeln, wobei der Charakter der<br />

Wahrnehmungen von Vorwissen <strong>und</strong> Interessen tingiert sei. Die Vorstellung schließlich<br />

wird als bildliche Reproduktion in der Vergangenheit wahrgenommener Objekte aufgefaßt,<br />

die Phantasievorstellung wird „relativ frei“ in der Kombination von Bewußtseinselementen,<br />

sie greift in die Zukunft über <strong>und</strong> betätigt sich in der „Schaffung neuer Abbilder“. 12<br />

Die Vorstellung verallgemeinert die „Angaben der Sinnesorgane“ zu einem einheitlichen<br />

anschaulichen Abbild, während das in Begriffen, Urteilen <strong>und</strong> Schlüssen verlaufende<br />

theoretische Denken auf das Unanschauliche geht. Im wirklichen Bewußtsein seien, so<br />

argumentiert man, die verschiedenen Ebenen neben- <strong>und</strong> miteinander vorhanden, es<br />

gebe kein reines Wahrnehmen <strong>und</strong> reines Denken, das Bewußtsein sei nie allein Wissen<br />

<strong>und</strong> Erkennen, sondern stets auch Erleben <strong>und</strong> Bewerten. Bedürfnisse <strong>und</strong> Emotionen<br />

seien die Triebfedern auch bei der Wahrheitssuche. 13<br />

Im Bewußtsein verweben sich nach marxistischer Auffassung Individuelles <strong>und</strong> Gesellschaftliches.<br />

Das Individuum findet in Gestalt wissenschaftlicher Kenntnisse, künstlerischer<br />

Werte, Rechts- <strong>und</strong> Moralnormen in der Gesellschaft entstandene Bewußtseinsformen<br />

vor, die sich prägend auf den Entwicklungsprozeß des individuellen Bewußtseins<br />

im Lebenslauf auswirken. Durch das gesellschaftliche Milieu, in dem er lebt, nimmt der<br />

Heranwachsende Einschätzungen, Kenntnisse <strong>und</strong> Überzeugungen in sich auf; Lebensweise,<br />

<strong>soziale</strong> Psychologie <strong>und</strong> Kulturniveau seines <strong>soziale</strong>n Umfeldes sind wesentliche<br />

Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung.<br />

,Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen r<strong>und</strong>en Erde stehende, alle Naturkräfte<br />

aus- <strong>und</strong> einatmende Mensch seine wirklichen gegenständlichen Wesenskräfte durch<br />

seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt, es ist<br />

die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion darum auch nur eine gegenständliche<br />

sein kann“ 14 , formuliert Marx in seiner Hegel-Kritik der „Pariser Manuskrip-<br />

58<br />

9<br />

Tugarinow 1974, S. 12.<br />

10<br />

Konstantinow, S. 102.<br />

11<br />

ibd., vorher vgl. MEW-Erg.bd. 1, 580.<br />

12<br />

ibd., 103.<br />

13<br />

ibd., 103f.<br />

14<br />

MEW-Erg.bd. 1, S. 577.

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