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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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sierung des in der Knospe oder im Samenkorn der Möglichkeit nach Ruhenden dar.“ 24<br />

Man mag heute mit guten Gründen einzelne biologische Thesen Goethes in Frage stellen,<br />

entscheidend bleibt seine Entdeckung der wichtigsten Eigenschaft des rein Pflanzlichen,<br />

der „Fähigkeit, sich aus sich selbst zu erneuern, sich im rhythmischen Wechsel<br />

auszudehnen, zusammenzuziehen <strong>und</strong> wieder auszudehnen [...]“ 25<br />

Inbegriff der die einzelnen Wachstumsphasen <strong>und</strong> das Verhältnis der Teile zueinander<br />

bedingenden ,Natur des Ganzen‘ wird <strong>für</strong> Goethe die „Urpflanze“. Sie ist ein Wesen,<br />

„welches in ständiger Verwandlung begriffen ist <strong>und</strong> dabei doch immer identisch bleibt.“ 26<br />

Dieses eine, in allem Wechsel Dauernde, sucht Goethe in der unendlichen Menge der<br />

Pflanzengestalten. - Im Tierreich spürt er ihm später als dem „Typus“ nach. Dabei denkt<br />

er nicht an eine einzelne ausgestorbene Spezies als Vorfahr der heutigen Pflanzen- oder<br />

Tierwelt, aus der diese sich durch eine Kette materieller Kausalitäten entwickelt hätten.<br />

Die Urpflanze ist auch kein abstrakter, nominalistisch gefaßter Begriff, keine bloße Abbreviatur<br />

<strong>für</strong> die einzelnen Pflanzenindividuen. Er ist wie die Hegelsche „Idee“ in der Objektwelt<br />

selbst wirksam, hat aber anders als diese einen anschaulichen, prototypischen,<br />

urbildlichen Charakter. Er ist die eine Gr<strong>und</strong>form in aller Mannigfaltigkeit: „Eine solche<br />

muß es doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde<br />

eine Pflanze ist, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.“ 27<br />

Die Urpflanze ist Idee, insofern sie etwas nur gedanklich Festzuhaltendes ist; sie ist<br />

aber nicht gestaltlos-abstrakt <strong>und</strong> unanschaulich. Man hält bei ihr in der Idee fest, „was<br />

bei jedem einzelnen Pflanzenindividuum die Natur gleichsam zugr<strong>und</strong>elegt <strong>und</strong> woraus<br />

sie dieselbe als eine Folge ableitet <strong>und</strong> entstehen läßt.“ 28 Charakteristisch <strong>für</strong> das Urbild<br />

ist die Unerschöpflichkeit seiner Ausformungsmöglichkeiten. Es ist kein starres Modell,<br />

das alle Bewegungen festlegt, wie die Idee eines Mechanismus. Es ist lebendigbeweglich:<br />

„Mit diesem Modell <strong>und</strong> dem Schlüssel dazu“, so Goethe, „kann man alsdann noch<br />

Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, d.h. die, wenn sie auch<br />

nicht existieren, doch existieren könnten <strong>und</strong> nicht etwa bloße dichterische Schatten <strong>und</strong><br />

Scheine sind, sondern innerliche Wahrheit <strong>und</strong> Notwendigkeit haben. Dieses Gesetz wird<br />

sich nun auf alles Lebendige anwenden lassen.“ 29<br />

Die Urpflanze ist nicht eine bloße begriffliche Einheit zur äußerlichen Zusammenfassung<br />

des Mannigfaltigen, sondern die im Mannigfaltigen selber wirkende Einheit; sie ist<br />

Entelechie im Sinne des Aristoteles, das Thema, von dem alle einzelnen Pflanzenindividuen<br />

nur Variationen sind. Die begriffliche Produktivität, die aus dem Urbild mögliche<br />

Pflanzenformen ersinnt, ist eines Wesens mit der Produktivität der Natur, die das Muster,<br />

das Typische <strong>und</strong> Wesenhafte von Pflanze <strong>und</strong> Tier in immer neuen Gattungen, Arten<br />

<strong>und</strong> Individuen verwirklicht. Steiner nennt den Begriff der Urpflanze, weil er nicht aus<br />

Abstraktion stammt, sondern einen aus sich fließenden Gehalt hat, einen intuitiven. Nur<br />

durch einen solchen Begriff könne ein Organismus begriffen werden. Entelechie ist das<br />

sich aus sich selbst Bestimmende, die sich selbst ins Dasein rufende Kraft, das Selbstbewegte<br />

schlechthin. „Die anorganischen Wirkungsreihen haben nirgends Anfang <strong>und</strong><br />

Ende; das folgende steht mit dem Vorhergehenden nur in einem zufälligen Zusammenhang.<br />

Fällt ein Stein zur Erde, so hängt es von der zufälligen Form des Objekts, auf welches<br />

er fällt, ab, welche Wirkung er ausübt [...] Die auf sich gebaute Entelechie enthält<br />

eine Anzahl sinnlicher Gestaltungsformen, von denen eine die erste, eine andere die<br />

letzte sein muß; bei denen immer in ganz bestimmter Weise die eine auf die andere folgen<br />

kann. Die ideelle Einheit setzt aus sich heraus eine Reihe sinnenfälliger Organe in<br />

zeitlicher Aufeinanderfolge <strong>und</strong> in räumlichem Nebeneinandersein <strong>und</strong> schließt sich in<br />

ganz bestimmter Weise von der übrigen Natur ab. Sie setzt ihre Zustände aus sich heraus<br />

[...]“ „Der unorganische Körper ist abgeschlossen, starr, nur von außen zu erregen,<br />

innen unbeweglich. Der Organismus ist die Unruhe in sich selbst, vom Innern“ (als der<br />

Quelle der Selbstbewegung) „heraus stets sich umbildend, verwandelnd, Metamorphosen<br />

bildend.“ 30<br />

24 ibd. 67.<br />

25 Grohmann 1981 Bd. 1, S. 10. Suchantke 1983 etwa stellt die These in Frage, daß alle Pflanzenteile nur<br />

metamorphosiertes Blatt sind. Steiner geht in seinen späteren Untersuchungen z. B. über kosmische Einflüsse<br />

auf die pflanzliche Gestaltbildung über Goethe hinaus.<br />

26 GA 1, S. 14.<br />

78<br />

27<br />

Goethe am 17. 4. 1787, nach GA 1, S. 23.<br />

28<br />

GA 1, S. 23.<br />

29<br />

17. 5. 1787 an Herder, nach ibd., 23f.<br />

30<br />

GA 1, S. 63, vgl. S. 59.

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