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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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koordination der Erfahrungsinhalte beginnt er mit der Blicklenkung auf die Qualität des<br />

Auftretens dieser Inhalte: Ein Teil unseres Erfahrungsinhalts tritt zunächst ungeordnet<br />

<strong>und</strong> ohne unser Zutun auf, ein anderer dagegen hat die Qualität des von uns hervorgebrachten<br />

Gegebenseins. 46 Denken tritt nicht ohne innere Anstrengung <strong>und</strong> Tätigkeit in<br />

uns auf. Diese ist es, durch die Ordnung <strong>und</strong> Zusammenhang in den übrigen Erfahrungsinhalt<br />

kommt. Dabei erweisen sich die Begriffe, obwohl vom Subjekt hervorgebracht, als<br />

zusammenhängend nicht kraft dessen Willkür, sondern kraft ihres eigenen objektiven<br />

Inhalts. Dieser enthüllt sich nach der richtigen Zusammenfügung mit dem übrigen Erfahrungsinhalt<br />

als dessen vorher verborgener immanenter Zusammenhang. Der Erfahrungsinhalt<br />

hat sich vom unbegriffenen zum begriffenen gewandelt. Die Qualität des unmittelbar<br />

vor der Bearbeitung durch das Denken gegebenen Erfahrungsinhalts als reine Wahrnehmung<br />

kann man nur durch Enthaltung von aller Tätigkeit gewahren. Gewöhnlich haben<br />

wir es da, wo wir wahrzunehmen vermeinen, schon mit Ergebnissen einer vorbewußt<br />

verlaufenden Strukturbildung zu tun, wobei Struktur hier als Komplex sinnlichwahrnehmbarer<br />

<strong>und</strong> begrifflicher Elemente verstanden wird. Die seelische Beobachtung<br />

deckt nun - im Sinne einer „Strukturphänomenologie“ - auf, daß die „vollständige Wirklichkeit<br />

in der Vielfalt ihrer Erscheinungen nicht ohne unser mitgestaltendes Zutun als<br />

unser Bewußtseinsinhalt erscheint“. 47<br />

Die Methode der seelischen Beobachtung führt in ihrer Anwendung zu einer Reihe<br />

weiterer Konsequenzen, die hier nur in knappen Strichen skizziert werden können:<br />

1. Sie schärft den Blick <strong>für</strong> die Differenziertheit der Sinnesqualitäten <strong>und</strong> Modalbereiche.<br />

Die von Steiner später entwickelte Sinneslehre steht daher zu seiner Erkenntnistheorie<br />

nicht im Widerspruch, sondern stellt ihre Ergänzung <strong>und</strong> Weiterführung dar. 48<br />

2. Die seelische Beobachtung führt zur Einsicht in das Wesen der Begriffsqualität: Der<br />

Begriffsinhalt ist nicht durch Abstraktion gewinnbar, zum Beispiel durch Selektion „wesentlicher<br />

Merkmale“ o.ä., da die Begriffe - von den Kategorien abwärts - nur deshalb <strong>für</strong><br />

die Zusammenordnung der Resterfahrung die Form abgeben können, weil sie als solche<br />

bereits inhaltliche Bestimmungen darstellen. Diese kommen nicht in der Sinneserfahrung<br />

vor, in der nichts als „wesentlich“, „gleich“, „ähnlich“ <strong>und</strong> so weiter auftritt. So führt die<br />

seelische Beobachtung zu der Aufgabe zu beobachten, wie der Schein der Abstraktheit<br />

der Begriffe sich bildet. Darauf wird zurückzukommen sein.<br />

3. Seelische Beobachtung falsifiziert die dialektisch-materialistische These, daß Denken<br />

als Hirnfunktion <strong>und</strong> so weiter materiell determiniert sei, denn diese Beobachtung<br />

ergibt, daß konzentriertes Denken, im Gegensatz zum assoziativen, aus sich selber<br />

schöpft; in der Beobachtung des Denkens nimmt sich das Ich als tätiges in seiner Unableitbarkeit<br />

aus Prozessen materieller Substanz wahr. Die physische Organisation vermittelt<br />

dem Menschen durch die Sinnesorgane ein unzusammenhängend Gegebenes, dessen<br />

Zusammenhang das Denken dadurch wieder zur Geltung bringt, daß es die Zurückdrängung<br />

des zusammenhangbildenden Elements seinerseits zurückdrängt. In diesem<br />

Sinne wird stets „gegen“ die physische Organisation gedacht. Die Funktion des Gehirns<br />

in bezug auf das Denkens ist daher nicht die des Quellgr<strong>und</strong>s, sondern die des Widerlagers.<br />

4. Seelische Beobachtung lenkt die Aufmerksamkeit vom Gewordenen auf das Werdende,<br />

auf die Tätigkeit, die Begriffe produziert <strong>und</strong> sie auf dem Wege „experimenteller<br />

Urteilsbildung“ (H. Witzenmann) mit Wahrnehmungsinhalten verknüpft, ihnen dadurch<br />

ihren geistigen Gehalt zurückgebend. Dadurch durchbricht sie den „Erinnerungsschleier“<br />

(Witzenmann), der dem gewöhnlichen Gegenstandsbewußtsein die Strukturbildung verhüllt.<br />

Diesem Bewußtsein entgeht der Bezug auf eine in der Vergangenheit bereits vollzogene<br />

Strukturbildung. Durch diese vorbewußt bleibende Erinnerungsförmigkeit entstehen<br />

die naiv-realistischen Vermeinungen des Gegenstandsbewußtseins, wie sie letztlich<br />

auch dem Materiebegriff des <strong>Marxismus</strong> zugr<strong>und</strong>e liegen, deren Genese sich ebenfalls<br />

als beobachtbar erweist.<br />

5. Seelische Beobachtung klärt das Verhältnis von Begriff, Wahrnehmung <strong>und</strong> Vorstellung<br />

auf. Der Anpassungsvorgang der Allgemeinbegriffe (Universalien) erfolgt in einzelnen<br />

Akten, nach denen diese Universalien als individualisierte Begriffe oder „Vorstellungen“<br />

im Bewußtsein verbleiben, das heißt sie verbleiben dort in einer an die Einzelerfah-<br />

46<br />

Vgl. insbesondere die entsprechenden Passagen in GA 2 <strong>und</strong> 3.<br />

47<br />

H. Witzenmann, a.a.O., S. 101.<br />

48<br />

Damit widerspreche ich insoweit der These von Hans Jürgen Scheurle in seinem wichtigen Werk Die Gesamtsinnesorganisation<br />

- Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Sinneslehre, Stuttgart, New York<br />

1984.<br />

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