Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Einen „erstaunlichen praktischen Wirklichkeitssinn“ attestiert Steiner selbst sein geschworener<br />
Gegner Max Dessoir.“ 16 Daß sich der Ring des Schweigens, der lange um<br />
seinem Werk lag, heute zu lockern beginnt, dürfte damit zusammenhängen, daß viele<br />
von Steiners praktischen Ansätzen sich als tragfähig erwiesen haben <strong>und</strong> Schule zu machen<br />
beginnen. Die 1919 mit der Gründung der Waldorfschule, der ersten deutschen<br />
Gesamtschule, inaugurierte internationale Bewegung Freier Schulen, der biologischdynamische<br />
Landbau, die Heime <strong>und</strong> Dorfgemeinschaften <strong>für</strong> seelisch Behinderte, eine<br />
Reihe alternativer Krankenhäuser, das sind einige Stichworte <strong>für</strong> die praktischen Arbeitsfelder<br />
der <strong>Anthroposophie</strong>.<br />
Steiners Versuch, durch eine breite Volksbewegung die Situation nach dem Ersten<br />
Weltkrieg <strong>und</strong> dem Zusammenbruch der Monarchie <strong>für</strong> eine <strong>soziale</strong> Neuordnung zu nutzen,<br />
scheitert allerdings an mannigfachen Widerständen. Bis heute hat sich die „Dreigliederungsbewegung“,<br />
die zu einer freiheitlichen, demokratischen <strong>und</strong> solidarischen Gesellschaftsstruktur<br />
führen sollte <strong>und</strong> die besonders im süddeutschen Raum einen gewissen<br />
Einfluß gewinnen konnte, von dieser Niederlage nie vollständig erholt. 17<br />
Steiner scheint der Auffassung gewesen zu sein, daß der Dreigliederungsgedanke als<br />
gesamtgesellschaftlicher Neuordnungsansatz erst nach längerer Zeit wieder eine Chance<br />
haben könne. Wie dem auch sei, „Dreigliederung“ gedieh jedenfalls bis heute nur zum<br />
gemeinsamen Nenner von Einzelinitiativen auf pädagogischem, wirtschaftlichem <strong>und</strong><br />
anderen Feldern, ohne eine das System der Gesamtgesellschaft verändernde Kraft zu<br />
erlangen.<br />
Weihnachten 1923 unternimmt Steiner noch einen großangelegten Versuch, die Anthroposophische<br />
Gesellschaft auf eine neue Gr<strong>und</strong>lage zu stellen <strong>und</strong> sie gegenüber der<br />
Außenwelt stärker zu öffnen. Die Gesellschaft soll in jeder Hinsicht unsektiererisch <strong>und</strong><br />
freiheitlich sein, ein verpflichtendes „Programm“ soll es nicht geben. Jedermann, ungeachtet<br />
der „Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung“ soll ihr<br />
Mitglied werden können, wenn er nur „in dem Bestand einer solchen <strong>Institut</strong>ion, wie sie<br />
das Goetheanum als freie Hochschule <strong>für</strong> Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes<br />
sieht“ 18 .<br />
Auch unter den Anthroposophen ist die Frage, wie diese auf der sogenannten Weihnachtstagung<br />
vorgenommene Neugründung der Gesellschaft, gemessen an Steiners<br />
Intentionen, als vollständig gelungen anzusehen ist, nicht unumstritten. Sicher ist jedoch,<br />
daß sich die Anthroposophische Gesellschaft auf allen Kontinenten in die Breite entwickelt.<br />
Als Steiner am 30. März 1925 stirbt, ist er <strong>für</strong> eine große Zahl von Menschen zu einer<br />
Leitfigur geworden, der viele den Ausweg aus geistiger Verzweiflung danken. Sein wichtigstes<br />
Anliegen war es gewesen, durch seine „Inaugurationstat“, Geistesschüler auf die<br />
Bahn ihrer Entwicklung zu bringen“ 19 , d.h. Menschen zu geistiger Anstrengung zu motivieren,<br />
die eine über das übliche Maß hinausgehende innere Selbständigkeit verlangt. Die<br />
Dogmatisierung, die manche seiner Anhänger betreiben, ist diesem Anliegen wesensfremd<br />
<strong>und</strong> stellt eine latente Bedrohung des Werks dar. Steiners Klage, er wolle verstanden,<br />
nicht verehrt werden, ist dazu der deutlichste Kommentar. 20<br />
Die Gegner, die Steiner als Scharlatan <strong>und</strong> falschen Propheten sahen, haben seinem<br />
Schritt zu Theosophie <strong>und</strong> <strong>Anthroposophie</strong> die innere Wahrhaftigkeit absprechen wollen<br />
<strong>und</strong> sinngemäß die Auffassung vertreten, er sei seiner ursprünglichen Auffassungsweise<br />
zugunsten einer Art „Guru-Karriere“ untreu geworden, habe diesen Bruch aber nachträglich<br />
geleugnet <strong>und</strong> kaschiert. Das ist ebensowenig haltbar wie die Auffassung, Steiner sei<br />
Eklektiker oder reihe unverb<strong>und</strong>ene Eingebungen aneinander. So sehr Steiners Auffassungen<br />
eine Entwicklung durchmachen, so sehr ist diese doch von einem roten Faden<br />
durchzogen. Steiners Herangehensweise an Inhalte, die als solche auch in anderen<br />
Strömungen - okkultistischer, mystischer, religiöser Art - vorkommen mögen, ist immer<br />
durch die im Untertitel der „Philosophie der Freiheit“ formulierte methodische Leitlinie<br />
bestimmt, „seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“ zu<br />
suchen. Die „übersinnlichen“ Forschungsmethoden, auf die sich Steiner in seiner theoso-<br />
16<br />
Dessoir 1979, S. 494.<br />
17<br />
Vgl. GA 23, Leber 1978, Kühn 1978.<br />
18<br />
§ 4 der Statuten, s. GA 260. Die Verbindung solcher Offenheit mit einer Esoterik, die den Anschluß an<br />
das Mysterienwesen der Antike sucht, ist auf den ersten Blick seltsam, aber von Steiners Ansatz her konsequent.<br />
Vgl. dazu Prokofieff 1982.<br />
19<br />
Brief an Hübbe-Schleiden vom 16. 8. 1902, nach Wehr 1982, S. 169.<br />
20<br />
Nach Wehr 1982, S. 322.<br />
21