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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Bei einem solchen Diskurs würde die eine Seite geltend machen können, daß ihr System<br />

der „Checks and Balances“ zwar ökonomische Machtballungen nicht verhindert hat,<br />

aber doch immerhin ein gewisses Maß an Minderheitenschutz <strong>und</strong> geistiger Freiheit garantiert<br />

<strong>und</strong> auch, ohne allerdings das System der Lohnarbeit anzutasten, eine nicht unbeträchtliche<br />

Verbesserung der ökonomischen Lage der arbeitenden Menschen gebracht<br />

hat. Sie würde darauf hinweisen können, daß der Legitimationszwang, unter den sich die<br />

Regierenden durch den Mechanismus der Wahl begeben müssen, genauso eine Realität<br />

darstellt wie die Macht der Monopole, eine Realität, die jede Partei zwingt, in erheblichem<br />

Maß auch den Interessen der Mehrheit Rechnung zu tragen. Und sie würde erklären<br />

können, daß die Einparteien- bzw. Blockparteiensysteme, die eine echte Konkurrenz bei<br />

den Wahlen nicht kennen, gegenüber der politischen Demokratie <strong>und</strong> Kultur des Westens<br />

zurückstehen <strong>und</strong> die kommunistischen Parteien immer wieder der Gefahr erliegen, sich<br />

zum Vorm<strong>und</strong> der Arbeiter aufzuwerfen.<br />

Die andere Seite würde dagegen darauf pochen können, daß man sich nicht unter Berufung<br />

auf formale Demokratie um die Frage der realen ökonomischen Machtverhältnisse<br />

herumdrücken dürfe. Sie würde darauf hinweisen können, wie weit die Parteiensysteme<br />

des Westens noch von tatsächlicher „Volksherrschaft“ entfernt sind. Darauf, daß die „Mediatisierung“<br />

des Volkswillens durch diese mächtigen Apparate mit ihrem Kandidatenauswahlmonopol,<br />

ihrer Fraktionsdisziplin <strong>und</strong> ihrer weitgehenden Finanzierung aus der<br />

Staatskasse den Gedanken der Repräsentativverfassung ausgehöhlt habe. Sie würde<br />

auf das Maß an <strong>soziale</strong>r Sicherheit, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Chancengleichheit hindeuten, das<br />

ihr sozialistisches System den „Werktätigen“ bietet <strong>und</strong> auf die Formen kameradschaftlicher<br />

Zusammenarbeit <strong>und</strong> gegenseitiger Hilfe in einem nicht vom Profit gesteuerten Wirtschaftssystem.<br />

Ganz abgesehen davon, daß wir von einer solchen Art des Diskurses<br />

noch entfernt sind: von ihm eine Konvergenz der Systeme oder gar eine weltweite gesellschaftliche<br />

Neuordnung zu erwarten, wäre Illusion. Doch könnte er immerhin zu einem<br />

Klima größerer Sachlichkeit, zu mehr Entspannung, zu einem wirklichkeitsoffeneren <strong>soziale</strong>n<br />

<strong>und</strong> politischen Denken verhelfen <strong>und</strong> damit zu jener friedlichen Koexistenz beitragen,<br />

zu der es im Atomzeitalter keine Alternative gibt.<br />

Steiner dürfte sich nur zu gut darüber im klaren gewesen sein, daß die Chance einer<br />

gesellschaftlichen Neuordnung an Haupt <strong>und</strong> Gliedern von ganz bestimmten historischen<br />

Konstellationen abhängig ist, die nicht beliebig wiederholbar sind. Von daher ergeben<br />

sich auch heute realistische Einschätzungen historischer Fristen <strong>für</strong> die Durchsetzung<br />

des Dreigliederungskonzepts. Man kann in diesem Zusammenhang weder die Frage<br />

umgehen, in welchem Verhältnis Dreigliederungsgedanke <strong>und</strong> anthroposophischer Sozialimpuls<br />

als ganzer zueinander stehen, noch die Frage nach den politisehen Aspekten<br />

der Durchsetzung von Dreigliederung.<br />

Der anthroposophische Sozialimpuls, als dessen Nerv Steiner das mitmenschliche Interesse<br />

bezeichnet, ist jeweils hier <strong>und</strong> heute zu verwirklichen, es gibt keinen Sinn, die<br />

Verwirklichung auszusetzen unter Hinweis darauf, die Zeit <strong>für</strong> die große gesellschaftliche<br />

Neuordnung im Sinne der Dreigliederung sei noch nicht reif. Was diese Dreigliederung<br />

selbst angeht, so wird man ebenfalls hier <strong>und</strong> heute damit beginnen müssen, <strong>für</strong> dieses<br />

Konzept Vertrauen zu erringen, es weiter auszuarbeiten, <strong>und</strong> einzelne Ansätze wie freie<br />

Schulen, Krankenhäuser, selbstverwaltete Betriebe usw. zu schaffen. Was solche Initiativen<br />

angeht, so ergibt sich aus der Praxis immer wieder die Frage der politischen Absicherung<br />

<strong>und</strong> damit die Notwendigkeit, in die öffentliche Debatte über Schul-, Arzneimittelgesetze<br />

usw. einzugreifen.<br />

Schon deshalb ist es durchaus auch heute relevant, Steiners Verhältnis zum Politischen<br />

in der „Dreigliederungszeit“ zu studieren. Der B<strong>und</strong> <strong>für</strong> Dreigliederung wollte damals<br />

Menschen guten Willens „aus allen Berufen, Lebenskreisen <strong>und</strong> Parteien“ vereinen,<br />

lehnte es aber ab, mit seiner Konzeption „auf irgendeinen Parteiboden gestellt zu werden.“<br />

30 Steiner steht den Parteien mit Reserve gegenüber. Zu gut weiß er, daß sie schon<br />

aus wahltaktischen Gründen ihr Programm als das einzig heilsame anpreisen müssen.<br />

Dadurch entsteht engstirniges, formelhaftes Denken „stramm in Parteiprogramme eingespannter<br />

Köpfe“ 31 , wo es um <strong>soziale</strong> Phantasie <strong>und</strong> gemeinsame Problemlösungsstrategien<br />

anstelle von Schaukämpfen um die Publikumsgunst ginge. Sowenig Steiners Alternative<br />

dazu ein „demokratisch“ verbrämter Zentralismus ist, sowenig eifert er sektiererisch<br />

gegen die Parteien, mit denen er vielmehr als mit einer Tatsache zu rechnen weiß.<br />

Die Parteien spalten zu wollen oder etwa gar eine neue, eine Dreigliederungspartei grün-<br />

174<br />

30 Nach Kugler 1978, S. 198.<br />

31 GA 23, S. 22.

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