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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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enen unabänderlichen „Eigentumsinstinkt“: d.h. es gibt keine biologische Rechtfertigung<br />

<strong>für</strong> Kapitalismus <strong>und</strong> Krieg, Rassismus <strong>und</strong> Genozid. Machtstreben, Konformismus, Zerstörungswille<br />

usw. sind nicht primär von der Psychologie her zu bekämpfen, sondern<br />

durch die revolutionäre Beseitigung ihrer gesellschaftlichen Wurzeln. 26<br />

Der Mensch ist also <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong> ein bio<strong>soziale</strong>s Wesen, <strong>und</strong> seine individuellen<br />

Fähigkeiten entstehen aus der Dialektik von Vererbung <strong>und</strong> Milieueinfluß, entstammen<br />

also letztlich nicht der Individualität selber, die als entstanden <strong>und</strong> vergänglich gedacht<br />

wird, sondern entstehen aus etwas außer ihr Liegendem <strong>und</strong> ihr Vorausgehendem. Der<br />

Mensch bleibt immer ein Geschöpf natürlicher <strong>und</strong> <strong>soziale</strong>r Verhältnisse. Doch ist in einem<br />

Satz von Marx aus dem Vorwort zum Kapital, der dies konstatiert, zugleich die Rede<br />

davon, daß der einzelne sich subjektiv, auch wenn dies weitgehend folgenlos bleibt, über<br />

die ihn prägenden Verhältnisse erheben kann. Wer ist aber das Subjekt dieser Erhebung,<br />

wenn alle Subjektivität doch von bio<strong>soziale</strong>n Determinanten produziert sein soll? An diesem<br />

Punkt läßt uns Marx im Stich. Die Individualität bleibt unerklärlich, da sie aus anderem<br />

erklärt werden soll. Der Weg zum Verständnis der ,ungeselligen Geselligkeit des<br />

Menschen‘ (Kant) ist so teilweise verbaut: Die Versöhnung zwischen Persönlichkeit <strong>und</strong><br />

Gesellschaft im <strong>Marxismus</strong> kippt immer wieder in die Vergesellschaftung der Persönlichkeit<br />

um. Der Individualismus wird letztlich doch immer wieder auf Egoismus, auf einen<br />

ideologischen Reflex von Konkurrenz <strong>und</strong> Anarchie der Produktion, auf einen Ausdruck<br />

kleinbürgerlicher Mentalität reduziert. Immerhin wird zugegeben, daß im Sozialismus<br />

durchaus noch Konflikte zwischen gesellschaftlichen Interessen, Gruppeninteressen (<strong>und</strong><br />

auch -egoismen) <strong>und</strong> persönlichen Belangen existieren, ja selbst im Kommunismus die<br />

Interessenidentität nichts automatisch Gegebenes sein werde. Jedoch sei der kapitalistische<br />

Kampf aller gegen alle im Sozialismus beseitigt, die objektiven Bedingungen <strong>für</strong><br />

Solidarität, die den Schwächeren miteinbezieht <strong>und</strong> die <strong>soziale</strong> Initiative des Starken<br />

fordert, gegeben.<br />

Der <strong>Marxismus</strong> leugnet die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte nicht. Aber er<br />

kritisiert alle Formen elitärer Massenverachtung, die wähnt, einzelne große Politiker oder<br />

Intellektuelle machten die Geschichte, während die Volksmassen bloß passives Material<br />

seien. Diese Meinung habe ein gewisses F<strong>und</strong>ament im faktischen Ausschluß der Massen<br />

von der Gestaltung ihrer eigenen Geschicke in der antagonistischen Gesellschaft;<br />

doch machten die Herrschenden Politik nicht im luftleeren Raum, sondern unter bestimmten,<br />

maßgeblich durch die materielle Arbeit der Volksmassen geschaffenen Bedingungen.<br />

Gleichwohl ist vom Wirken führender Persönlichkeiten Verzögerung oder Beschleunigung<br />

des Geschichtsverlaufs durchaus abhängig, wenn auch letztlich nicht seine Gr<strong>und</strong>richtung:<br />

Die Entwicklung der Produktion, aber auch die der Wissenschaft <strong>und</strong> Kunst gilt als<br />

gesetzmäßiger Prozeß. D.h. daß der pythagoräische Lehrsatz, die Schwerkraftgesetze<br />

<strong>und</strong> die Lokomotive auch ohne Pythagoras, Stephenson <strong>und</strong> Newton eines Tages gef<strong>und</strong>en<br />

worden wären, daß die Zeit <strong>für</strong> die materialistische Geschichtsauffassung z.B. einfach<br />

„reif war <strong>und</strong> sie eben entdeckt werden mußte“ 27 , auch ohne Marx <strong>und</strong> Engels, wenn<br />

auch in diesem Fall vielleicht etwas später, daß die sozialistische Revolution auch ohne<br />

Lenin irgendwo die erste Bresche in das imperialistische Weltsystem geschlagen hätte.<br />

Es ist dies ein Punkt, wo man deutlich Unsicherheit herausspürt: Beinahe im gleichen<br />

Atemzug wird die Genialität von Marx, Engels <strong>und</strong> Lenin, die eminente Rolle der Parteiführer<br />

überhaupt in den höchsten Tönen gepriesen, aber es wird auch auf die Gefahren<br />

des Personenkults, wie sie in den Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit in der<br />

Stalin-Ära hervorgetreten seien, hingewiesen.<br />

26<br />

Konstantinow kritisiert in diesem Zusammenhang E. Fromms Konzept der Arbeit an der Psyche in kleinen<br />

Gruppen, s. S. 507f.<br />

27<br />

Engels an W. Borgius, 25.1.1894, in MEW 39, S. 206f.<br />

183

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