Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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lebensmögliche Zusammenhänge, <strong>für</strong> die notwendige Funktionalität von Struktur- <strong>und</strong><br />
Organbildungen, geschärft werden. Analogieschlüsse als Erkenntnismittel <strong>für</strong> den <strong>soziale</strong>n<br />
Organismus werden aber ausdrücklich abgelehnt, da sie der Spezifik des Sozialen<br />
nicht gerecht werden können.<br />
Wie diese Lebenszusammenhänge im <strong>soziale</strong>n Organismus aussehen, soll zunächst<br />
in bezug auf das geistige Leben der Gesellschaft kurz betrachtet werden. Aus ihm muß<br />
ein ständiger Strom an produktiven, konstruktiven <strong>und</strong> kreativen Fähigkeiten in den gesellschaftlichen<br />
Gesamtorganismus einfließen. Träger der Fähigkeiten sind die menschlichen<br />
Iche. Weil das Ich nicht nur im Denken lebt, sondern als Willenshaft-Geistiges ebenso<br />
in den Gliedern <strong>und</strong> damit in der gegenständlichen Arbeit, muß man mit Steiner<br />
dieses Ich in seiner Selbstbeweglichkeit <strong>und</strong> Selbstgestaltungspotenz als das Subjekt der<br />
geistigen <strong>und</strong> der materiellen Produktion auffassen. So kommt man zu einem umfasssenderen<br />
Arbeitsbegriff, als der Marxsche es ist. Wenn Jürgen Habermas an Marx kritisiert,<br />
daß dieser Arbeit <strong>und</strong> Tätigkeit zu stark auf den technisch-materiellen Aspekt reduziere,<br />
so schließt Steiners Betrachtung die materielle Güterproduktion ebenso ein wie das<br />
kommunikative Handeln, die künstlerische <strong>und</strong> die wissenschaftliche Produktion.<br />
Arbeit ist geistiges Leben! Wo dieses Leben sich auf die materielle Produktion richtet,<br />
kann allerdings noch nicht von einem freien, allenfalls von einem halbfreien Geistesleben<br />
gesprochen werden. Volle Freiheit als Gestaltungsprinzip muß da wirken, wo der Fähigkeitsstrom<br />
entspringt, dort, wo die Fähigkeiten selbst durch Bildung <strong>und</strong> Erziehung zur<br />
Entfaltung gebracht werden. Das Geistesleben insgesamt kann seine Funktion nur bei<br />
voller Selbstverwaltung seines Kernbereichs richtig erfüllen.<br />
Dieselbe funktionale Betrachtungsweise wird auch <strong>für</strong> das Rechts- <strong>und</strong> das Wirtschaftsleben<br />
fruchtbar: Die Ausgleichs- <strong>und</strong> Ordnungsfunktion des Rechtslebens ist unverzichtbar,<br />
darf aber nicht in eine Verrechtlichung aller Lebensbereiche überwuchern<br />
<strong>und</strong> kann heute nicht mehr von oben, sondern nur demokratisch, aus der gleichen Mündigkeit<br />
der Staatsbürger gestaltet werden. 61 <strong>und</strong> das Wirtschaftsleben kann seiner Bedarfsdeckungs-<br />
<strong>und</strong> -wahrnehmungsfunktion nur bei einer Verfassung der Solidarität,<br />
man kann auch etwas anspruchsvoller sagen: der Brüderlichkeit, gerecht werden.<br />
Es handelt sich bei der Dreigliederung des <strong>soziale</strong>n Organismus um das Gegenteil einer<br />
ständischen Einteilung der Gesellschaft. Unsere Zeit, das ist Steiners dezidierte Auffassung,<br />
strebt gerade über Klassen <strong>und</strong> Stände hinaus. Früher war der einzelne der<br />
Gesellschaft eingegliedert, heute muß sich die Gesellschaft gliedern, so daß der einzelne<br />
in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Denn Gliederung bedeutet Bewußtheit <strong>und</strong><br />
Gestaltbarkeit. Es muß erst einmal bewußt erlebt werden, was der einzelmenschlichgeistige,<br />
der zwischenmenschlich-rechtliche <strong>und</strong> sachlich-wirtschaftliche Aspekt einer<br />
Angelegenheit ist, dann müssen diese Aspekte, nachdem sie unterschieden sind, bewußt<br />
<strong>und</strong> in freier Weise zusammengefügt werden. Das ist das genaue Gegenteil der anonymen,<br />
<strong>und</strong>urchschaubaren Megamaschine, der sich die heutige Gesellschaft anzunähern<br />
droht. Es ist eine Gesellschaftsform, in der alles, was geschieht, nur so geschehen kann,<br />
daß es von Menschen durchschaut <strong>und</strong> verantwortet wird. 62 Dreigliederung des <strong>soziale</strong>n<br />
Organismus ist kein ausgedachtes „Programm“, sondern der Versuch, an den in der<br />
Neuzeit zur Verwirklichung drängenden menschlichen Impulsen die notwendige Gestaltung<br />
des <strong>soziale</strong>n Organismus abzulesen.<br />
Betrachtet man den <strong>soziale</strong>n Organismus in seiner Gliederung, so hat man zu trennen<br />
den eigentlich wirtschaftlichen Vorgang der Erzeugung, Verteilung <strong>und</strong> des Konsums von<br />
Waren <strong>und</strong> Dienstleistungen <strong>und</strong> all das, was mit der Arbeitskraft <strong>und</strong> der unternehmerischen<br />
Intelligenz zusammenhängt. Bei dem zweiten handelt es sich um eine Rechtsfrage,<br />
nicht eigentlich um eine ökonomische. Und beim dritten spielt Geistesleben in das<br />
61 Hierher gehört natürlich auch das Thema „Dreigliederung <strong>und</strong> Politik“: Rudolf Steiner hat auf der Weihnachtstagung<br />
1923 der Anthroposophischen Gesellschaft in die „Statuten“ den Satz aufnehmen lassen, die<br />
Politik betrachte die Anthroposophische Gesellschaft nicht als in ihr Aufgabenfeld fallend. Es ist verständlich,<br />
daß dieser Satz dann von manchen mißverstanden wurde: Daß die anthroposophisch orientierte Sozialwissenschaft<br />
nicht die bedeutungsvollsten Impulse <strong>für</strong> politisches Handeln beinhaltet, war nicht gemeint. Gemeint war<br />
nur, daß eine spirituelle Gemeinschaft nicht mit einer parteipolitischen verwechselt <strong>und</strong> daß mit der Spiritualität<br />
kein politischer Mißbrauch getrieben werden darf; <strong>und</strong> gemeint war auch dies, daß in einer Erkenntnisgemeinschaft<br />
freier Persönlichkeiten prinzipiell politische Urteile nicht kollektiv, sondern stets von einzelnen verantwortet<br />
werden.<br />
Marx hat einmal gesagt: Wer nicht politisch denkt <strong>und</strong> handelt, <strong>für</strong> den wird politisch gedacht <strong>und</strong> gehandelt.<br />
Das ist richtig. Richtig ist aber auch das andere: Wer nur politisch denkt <strong>und</strong> handelt, wird dem <strong>soziale</strong>n Organismus<br />
nicht gerecht.<br />
62 Zur Darstellung der Konsequenzen, die dieser Ansatz im einzelnen hat, verweise ich auf das Buch von<br />
Stefan Leber: Selbstverwirklichung, Mündigkeit, Sozialität. Eine Einführung in die Dreigliederung des <strong>soziale</strong>n<br />
Organismus. Stuttgart 1978.<br />
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