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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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die Weimarer Sophien-Ausgabe: bis 1897 ist er nun am Goethe-Schiller-Archiv angestellt.<br />

Daneben ist er u.a. als Schopenhauer- <strong>und</strong> Jean-Paul-Herausgeber tätig.<br />

Steiner zufolge kommt Goethe das Verdienst zu, z.B. gegenüber Newton, die Qualitäten<br />

der Natur <strong>und</strong> damit die lebendige Erfahrung zu ihrem Recht gebracht zu haben; er<br />

gilt ihm als „Galilei der Organik“ 5 , weil er eine Forschungsmethode entwickelt hat, die dem<br />

Wesen des Lebendigen gerecht wird.<br />

In der Philosophie knüpft Steiner an Fichte, Schelling <strong>und</strong> Hegel an, den er 1892 in einem<br />

Gesellschaftsspielfragebogen neben Nietzsche <strong>und</strong> Eduard von Hartmann als seinen<br />

Lieblingsschriftsteller bezeichnet. 6 Doch bleibt er nicht bei der Hegelschen „Idee“<br />

stehen, sondern sucht das geistige Leben in den Ideen auf. Er will, wie Marx, die Gedankenblässe<br />

des deutschen Idealismus überwinden, schlägt aber dabei eine andere Wegrichtung<br />

ein als der Autor des „Kapital“.<br />

1891 promoviert Steiner in Rostock mit der Arbeit „Die Gr<strong>und</strong>frage der Erkenntnistheorie<br />

mit besonderer Berücksichtigung der Fichteschen Wissenschaftslehre. Prolegomena<br />

zur Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst“. Die Buchausgabe<br />

„Wahrheit <strong>und</strong> Wissenschaft“ widmet er Eduard von Hartmann, dem Autor der „Philosophie<br />

des Unbewußten“. Doch Steiner hofft vergeblich, bei Hartmann Verständnis <strong>für</strong><br />

seine Auffassungen zu finden: Hartmann hat zahlreiche Einwände gegen die Argumentationsweise<br />

von Steiners 1893/94 erscheinender „Philosophie der Freiheit“. 7<br />

In diesem Werk wird die Klärung erkenntniswissenschaftlicher Gr<strong>und</strong>probleme <strong>und</strong> die<br />

in „Wahrheit <strong>und</strong> Wissenschaft“ begonnene Auseinandersetzung mit dem Agnostizismus<br />

der Neukantianer weitergetrieben; Steiner versucht die Sphäre einzugrenzen, in der das<br />

wahrhaft freie Handeln möglich, in der es keine Illusion ist. Er findet sie im individuell<br />

geprägten Handeln aus Erkenntnis, aus „moralischer Intuition“ heraus (ethischer Individualismus).<br />

Steiner hat seine „Philosophie der Freiheit“ immer als sein gr<strong>und</strong>legendes<br />

Werk betrachtet, auf das er darum auch immer wieder zurückkommt. 8<br />

1897 übersiedelt Steiner als Herausgeber des Magazins <strong>für</strong> Literatur nach Berlin,<br />

nachdem sich Hoffnungen auf eine Dozentur in Jena zerschlagen haben. In Berlin wird er<br />

auch als Herausgeber der „Dramaturgischen Blätter“, ferner im „Giordano-Bruno-B<strong>und</strong>“<br />

<strong>und</strong> im Kreis der „Kommenden“ aktiv. Nun tritt er mit solcher Vehemenz als Verfechter<br />

des neuen naturwissenschaftlichen Weltbildes auf - z.B. in seiner Verteidigung Haeckels<br />

gegen die klerikale Kritik -, daß er bald von manchen als Atheist <strong>und</strong> Materialist mißverstanden<br />

wird. Später wird ihm das den Vorwurf radikaler Brüche <strong>und</strong> Widersprüche in<br />

seiner Entwicklung eintragen. 9 Sein ethischer Individualismus bringt ihn nicht nur Nietzsche,<br />

sondern zeitweise Max Stirner nahe, dem Verfechter des Egoismus in der Philosophie,<br />

<strong>und</strong> dessen Schüler John Henry Mackay, der einen gewaltfreien Anarchismus vertrat.<br />

Von Bedeutung <strong>für</strong> die Ausformung seiner <strong>soziale</strong>n Konzeption wird Steiners Lehrtätigkeit<br />

an der von Wilhelm Liebknecht gegründeten Arbeiter-Bildungsschule in Berlin, die<br />

er von 1899 bis 1904 ausübt, bis seine Position unhaltbar wird: Einigen Parteileuten ist<br />

er, der kein Vertreter einer Parteiideologie ist, der materialistischen Geschichtsauffassung<br />

kritisch gegenübersteht <strong>und</strong> im Streben der Arbeiter nach <strong>soziale</strong>r Gerechtigkeit mehr<br />

erblickt als den Reflex ökonomischer Verhältnisse, schon längst ein Dorn im Auge.<br />

Steiners Hoffnungen auf gesellschaftliche Erneuerung ruhen nicht auf einer Partei, sei<br />

sie alten oder neuen Typs, er setzt primär auf eine geistige Erneuerungsbewegung. Eine<br />

Plattform <strong>für</strong> ein Wirken in dieser Richtung scheint sich ihm in der Theosophischen Gesellschaft<br />

zu eröffnen, in der er wie nirgendwo sonst Interesse <strong>für</strong> spirituelles Leben findet.<br />

Die zustimmende Aufnahme seiner Weltanschauung durch leitende Mitglieder dieser<br />

Gesellschaft habe ihn veranlaßt, sich ihr 1902 äußerlich anzuschließen, schreibt er rückschauend.<br />

10 Freilich interessiert man sich bei den Theosophen, die ihr Zentrum in Adyar<br />

(Indien) haben, vor allem <strong>für</strong> die Tradition des asiatischen Okkultismus <strong>und</strong> steht dem<br />

5<br />

GA 28, S. 79.<br />

6<br />

Wehr 1982, S. 99. In der Philosophie Fichtes, Schellings <strong>und</strong> Hegels <strong>und</strong> im Denken Herders, Lessings,<br />

Schillers <strong>und</strong> Goethes sieht Steiner „wie eine verborgene Kraft“ das okkulte Leben wirksam, das „einstmals in<br />

den Werken der großen deutschen Mystiker, Paracelsus, Jakob Böhme <strong>und</strong> Angelus Silesius, pulsierte.“ (GA<br />

35, S. 44.)<br />

7<br />

Vgl. bei Kugler 1978 S. 31ff. <strong>und</strong> „Beiträge“ Nr. 84/85.<br />

8<br />

Vgl. Palmer 1976.<br />

9<br />

Dieses Mißverständnis macht sich an Formulierungen Steiners fest, die der Radikalität seiner Kritik an jedem<br />

auf bloße Autorität gegründeten religiösen Bekenntnis entspringen. Vgl. Wehr 1982, S. 148, Lindenberg<br />

1970, Hansen 1983. Zu Haeckel vgl. Hemleben 1968.<br />

10<br />

Autobiographische Notiz, abgedr. in GA 2/3, S. 168.<br />

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