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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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tige Versuche der anthroposophisch orientierten Schulen, Krankenhäuser <strong>und</strong> so weiter,<br />

zu einer besseren, bedarfsgerechteren Einkommensverteilung der als gleichberechtigt<br />

angesehenen Mitarbeiter zu kommen. Die Arbeitskraft als Ware zu behandeln, ist in der<br />

Tat menschenunwürdig, die marxistische Kritik an diesem Zustand insoweit berechtigt.<br />

Rudolf Steiner weiß nur zu gut, daß die meisten die Idee der Trennung von Arbeit <strong>und</strong><br />

Einkommen <strong>für</strong> utopisch halten. Und er ist Realist genug, um eine Voraussetzung zu<br />

machen: Die Gemeinschaft muß sich einem Ziel verschrieben haben, das <strong>für</strong> den einzelnen<br />

Mitarbeiter eine echte menschliche Identifikation erlaubt <strong>und</strong> dadurch motivierend ist.<br />

„Geistige Mission“ der Gemeinschaft nennt er das. Solche sinnstiftenden Ziele kommen<br />

heute wenig zustande, weil das Wirtschaftsleben, die Warenproduktion, die Warenzirkulation<br />

<strong>und</strong> der Konsum weitgehend zum Selbstzweck geworden sind, statt als dienende<br />

Gr<strong>und</strong>lage menschlicher Entwicklung <strong>und</strong> Selbstverwirklichung betrachtet zu werden.<br />

Soziologisch kann man auch davon sprechen, daß das Wirtschaftsleben ein unges<strong>und</strong>es<br />

Übergewicht im <strong>soziale</strong>n Organismus bekommen hat, mit dem Rechts- <strong>und</strong> Staatsleben<br />

zu einer Art von staatsmonopolistischem Kapitalismus (ein marxistischer Terminus!) verwachsen<br />

ist <strong>und</strong> das Geistesleben von sich abhängig gemacht hat. Aus einem solchen<br />

unselbständigen Geistesleben können aber die motivierenden Impulse nicht kommen,<br />

deren der <strong>soziale</strong> Organismus bedarf. Nur in voller Freiheit kann dieses Geistesleben<br />

gedeihen. So ergänzen sich <strong>für</strong> Steiner die Forderungen nach einem solidarischen Wirtschaften,<br />

nach auch institutionell abgesicherter Geistesfreiheit <strong>und</strong> nach einem reinen<br />

demokratischen Rechtsstaat.<br />

Steiner bedenkt das Problem, in welchem Verhältnis institutionelle Veränderung <strong>und</strong><br />

individuelle <strong>und</strong> <strong>soziale</strong> Verhaltensänderung stehen: Eine <strong>soziale</strong> Ordnung herbeizuführen,<br />

dazu sind Einrichtungen notwendig, dazu genügen nicht moralische Appelle. Aber<br />

auf der anderen Seite werden die besten Einrichtungen pervertiert, wenn sich die Menschen<br />

in ihnen antisozial verhalten.<br />

Wegen mangelnden Interesses bei seinem theosophischen Publikum sieht sich Steiner<br />

gezwungen, die Aufsatzreihe „Geisteswissenschaft <strong>und</strong> <strong>soziale</strong> Frage“ abzubrechen.<br />

Erst im Epochenjahr 1917 wird das Thema wieder aufgegriffen: Steiner verfaßt auf Bitten<br />

die beiden Memoranden mit Vorschlägen zu einer <strong>soziale</strong>n Neuordnung in Mitteleuropa<br />

im Sinne des Selbstverwaltungsgedankens, von denen im ersten Beitrag dieses Bändchens<br />

bereits die Rede war.<br />

Nach der Novemberrevolution entwickelt sich eine Volksbewegung, vor allem in Baden-Württemberg,<br />

<strong>für</strong> die skizzierte Idee der <strong>soziale</strong>n „Dreigliederung“. Eine Selbstverwaltungsbewegung<br />

in den Betrieben („Betriebsrätebewegung“), die Gründung der selbstverwalteten<br />

Freien Waldorfschule als Versuch, wie Steiner sich ausdrückt, „reformierend,<br />

revolutionierend im Schulwesen zu wirken“ 59 , fallen in diese „aktivistische Zeit“. Selbstverwaltung<br />

des Bildungs-, speziell des Schulwesens, das heißt: Diejenigen, die erziehen<br />

<strong>und</strong> unterrichten, verantworten <strong>und</strong> gestalten nicht nur den pädagogischen Prozeß eigenständig,<br />

sondern auch alles im engeren Sinne Verwaltungsmäßige. Weder Lehrpläne<br />

noch „Direktoren“ lassen sie sich von einem wie immer gearteten „Oben“ vorschreiben.<br />

Sie bestimmen selbst, wen sie in das jeweilige Kollegium aufnehmen wollen. Sie machen<br />

ein pädagogisches Angebot an die „Abnehmer“ von Pädagogik: Eltern, Schüler. Sie haben<br />

sich diesen gegenüber zu verantworten <strong>und</strong> sind abhängig von ihrem freien Verständnis.<br />

Solche Schulen wollen keine staatliche Bestandsgarantie, sondern setzen sich<br />

einem Wettbewerb aus. Allerdings keinem kommerziellen: da sie eine gesamtgesellschaftliche<br />

Aufgabe erfüllen, muß ihre Finanzierung in geeigneter Weise gesamtgesellschaftlich<br />

abgesichert werden.<br />

Auch Marx spricht gelegentlich von der Gesellschaft als von einem <strong>soziale</strong>n Organismus,<br />

der kein fester Kristall, sondern in ständiger Bewegung <strong>und</strong> Veränderung befindlich<br />

sei. Rudolf Steiners Konzept der „Dreigliederung des <strong>soziale</strong>n Organismus“ geht von<br />

einer stringenteren organischen Betrachtungsweise aus, ohne statische Basis-Überbau-<br />

Relationen. Steiners Herangehensweise ist, wenn man so will, „strukturell-funktional“ <strong>und</strong><br />

weist insoweit Berührungspunkte zur modernen soziologischen Systemtheorie auf. 60 Jedoch<br />

wird bei Rudolf Steiner die Struktur niemals abstrakt gedacht <strong>und</strong> gegenüber dem<br />

Menschen verselbständigt. Am menschlichen natürlichen Organismus kann der Blick <strong>für</strong><br />

59 Am 20.8. 1919 bei der Begrüßung der 17 Teilnehmer des ersten Lehrerkurses, in: Allgemeine Menschenk<strong>und</strong>e<br />

als Gr<strong>und</strong>lage der Pädagogik, GA 293, Taschenbuchausgabe, Dornach 1975, S. 214.<br />

60 Diesen Gesichtspunkt hat C. Lindenberg in dem Aufsatz „Die Grenzen der <strong>soziale</strong>n Theorie. Soziale Differenzierung<br />

<strong>und</strong> Dreigliederung“, in: Die Drei, Heft 5, Stuttgart 1980, S. 277ff., zum ersten Mal herausgearbeitet.<br />

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